Luzern heute: Zum Timing der Trauer
Beim ersten Blick auf die CNN-Website im Büro unseres Rechnungsführers dachte ich zunächst an einen geschmacklosen Scherz. Erst lange Augenblicke später erfasste mich blankes Entsetzen. Es floss während der folgenden zwei Tage in all meine Gespräche mit ein. Bei jeder Gelegenheit drängte es mich, von diesen zerstörerischen Vorgängen rund ums World Trade Center und – etwas weniger – ums Pentagon zu reden. Und es sah auch nicht so aus, als ob ich der einzige gewesen wäre, der bewegt war. Ich fühlte mich eins mit Thema und GesprächspartnerInnen wie kaum je zuvor. Später erlaubte ich mir, in Abweichung zum generellen Tenor, spezifische Luzerner Befindlichkeit mit einzuflechten. Das provinziale Leben hat seine Vorteile: Ein derartiger Angriff ist hier nicht zu erwarten, weil er zu wenig Öffentlichkeit herstellen würde. Um soviel Mitgefühl zu erlangen, wie es jetzt New York zukommt, muss man sarkastisch gesehen schon erst mal das in den Zeitungen gross angekündigte Erdbeben abwarten.
Ganz besonders aufmerksam las ich die Kommentare, die von «nie mehr wie früher» sprachen, von Veränderung der Weltordnung und so. Als Ausdruck von Ergriffenheit kann ich solche Formulierungen hinnehmen, doch in mir regte sich gleich Widerspruch. Es mag schon sein, dass die Erschütterungen dazu führen, dass die Weltwirtschaft sich wandelt und schwierigen Zeiten entgegengeht. Doch die Börsenverluste vor dem Einsturz der Twin Towers von New York waren ebenso dramatisch, und es ist nicht gesagt, ob wir nicht schon bald wieder zum Tagesgeschäft hinübergehen, weil ganz einfach die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse mehr drängt als die Aufrechterhaltung des Entsetzens. Machte ich am Dienstag voriger Woche noch die ganze Nacht durch, so überkam mich in der nächsten Nacht schon der Schlaf. Und wäre das Weisse Haus auch noch in Schutt und Asche gelegt worden, ich hätte geschnarcht. Und am Samstag vermisste ich schon die abgesetzte Wochenshow von Sat1.
Die Bemessung der Halbwertszeit aussergewöhnlicher Gefühle ist eine delikate Angelegenheit, und ich bin beim Schreiben dieser Zeilen stets mit der Überlegung beschäftigt, wie mein schwankender Gemütszustand, in dem ich mich heute noch befinde, beim lesenden Publikum einige Tage später wohl aufgenommen werden wird. Es kann sein, dass meine Klagen über den Lauf der Dinge dannzumal völlig deplatziert sind, weil alle sich schon aufgemacht haben, sich wieder aus dem Koma aufzurappeln. Antizipiere ich aber zu forsch die Normalisierung, so kann es mir ergehen wie der letzten Headline von Cash, die drei Tage nach dem Desaster absolut geschmacklos daherbrabbelte: «Kein Grund zur Panik: Weltrezession bleibt aus!» hiess es da, und ich schüttelte den Kopf.
Das kollektive Traurigsein ist ein komplexes Gefühlssystem. Da ist ausserordentliches Fingerspitzengefühl notwendig, und jeder Schuss, der daneben geht, wird scharf geahndet. Ich begreife die UnterhalterInnen, SchreiberInnen und SportlerInnen aller Länder, die vorerst auf Tauchstation gegangen sind und erst allmählich wieder aus ihren Löchern kriechen. Es ist um ein Vielfaches schwieriger, in diesen Zeiten seinem Unterhaltungsgeschäft nachzugehen, als wenn das Traurig- und Erschüttertsein zum täglichen Business gehört, wie zum Beispiel bei der Tagesschau und den weiteren Informationsmagazinen, wo wir in den letzten Tagen fesselnde Augenblicke erlebten, die eben auch den Aspekt der spektakulären Unterhaltung in sich trugen, während die OrganisatorInnen der Miss-Schweiz-Wahl, die sehr wohl für ein bisschen Ablenkung vom Elend hätten sorgen können, wohl mit dem Bannstrahl der Missbilligung bestraft worden wären, hätten sie es gewagt, am letzten Samstag eine neue Schönheitskönigin zu erküren. Die Schritte zur Normalisierung akribisch zu beobachten und zu bezeichnen ist auch eine Art von Bewältigung traumatischer Vorkommnisse. Mir jedenfalls hilft es, wieder Tritt zu fassen und Vertrauen in den Alltag zu gewinnen, der auch hier gewinnen wird, mit Verlusten zwar, aber doch so, dass er in den meisten Teilen ans Vorher erinnern wird, als das WTC noch stand.
Zum Autor
Nikolaus Wyss ist Volkskundler und Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern.