Der Imperialismus produziert seine Wiedergänger: Das amerikanischste Attentat
Diesen Dienstag wird niemand vergessen, den Tag der Anschläge in New York und Washington. Ein Geschehen, das zunächst viel zu unwirklich war, weil es in Bildern ablief, an denen wir uns in teuren Filmen satt gesehen haben. «Stirb langsam» auf CNN, das wäre ja nicht mal eine so überraschende Entwicklung des Infotainments. Es dauerte eine Zeit lang, bis die Sensation die ihr angemessene Sprachlosigkeit fand.
Jede und jeder kannte die Türme des World Trade Center, hatte ungefähr die richtige Zahl der dort Arbeitenden im Kopf. New York, alle wollen einmal dort hin, und viele waren schon mal dort, haben die Türme bestaunt, die Sicherheitsmassnahmen gegen SelbstmörderInnen, das Gewusel der Menschen – eine Stadt für sich, und jetzt ist sie einfach weg.
Eine Zeit lang war es egal, was da an professioneller Bestürzung, an eingeübt sich überschlagender Stimme aus dem Fernseher kam; egal, wer sich da abseits vom Geschehen vor eine Kamera drängte, um auch jetzt noch seine Wichtigkeit zu behaupten; egal, was auch die wirklich Grossen an absehbarem Zeugs daherredeten. Eine Zeit lang hatte man kein Ohr für falsche Töne.
Es war wie beim Berliner Mauerfall oder bei der Ermordung Kennedys: das verrückte Gefühl, dass für einen Moment Geschichte stillsteht. Und die Gewissheit, dass es danach nicht mehr so sein wird, wie es war. Eine Zeitenwende und vielleicht, das ist fast zu befürchten, der Auftakt des neuen Jahrhunderts; das letzte begann eigentlich auch erst 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Wer immer der Urheber war, er muss über erstaunliche planerische, logistische und militärische Kapazität verfügen. Und er hat mit der wohl grösstmöglichen Wirkung kalkuliert. Mit seinen Zielen – dem Symbol des Welthandels, dem Aussenministerium als vermeintlichem Hirn und dem Pentagon als Schwert der Weltmacht – hat er ganz offensichtlich eine politische Botschaft ausgeschickt, in seiner Gnadenlosigkeit aber zugleich jeden politischen Anspruch diskreditiert. Da war ein Verblendeter am Werk. Aber wenn es nur das gewesen wäre.
Denn der wahnsinnige Kämpfer gegen US-Imperialismus und Globalisierung hat seine eigene, aber gar nicht so private Konsequenz aus einem wahnsinnigen System gezogen. Er kann und wird sich in seinem Handeln, in seiner Rücksichtslosigkeit auf den Alltag im grösseren Teil der Welt berufen. Und er braucht dazu keinen vom Irrsinn verzerrten Blick: Opfer sind für ihn allgegenwärtig, Politik heisst über Leichen gehen, auch über die eigene, ein anderes Leben ist für ihn nur eine Illusion. So hat sich das Weltsystem nicht nur den zu ihm passenden Mob geschaffen, der so kaputt ist, dass er jetzt die Toten der anderen Seite bejubelt, sondern auch den zu ihm passenden Gegner, das Spiegelbild. Amerikanischer hätte der Anschlag in seiner bedenkenlosen, selbstgefälligen Inszenierung nicht sein können.
Das Grauen von Soweto oder Lima, Gaza, Kabul oder Bombay ist für ein paar Tage, ein paar Wochen auch in Manhattan allgegenwärtig. Dann kehrt es zurück, mit den von US-Präsident George Bush bereits angekündigten Bomben und Granaten, mächtiger denn je. Das ist die Konsequenz der Tat, vielleicht auch das Ziel der Täter, die für die Freiheitsrechte der westlichen Welt nur noch Hohn übrig haben. In jedem Fall demonstrieren diese Antiimperialisten damit aber, wie nahe ein Teil der weltweit anzutreffenden Gegnerschaft schon an die Schwelle des Schlimmsten gekommen ist, was ihr passieren kann: dass die Verzweiflung durch politische Aktion nicht mehr aufzuhalten und schon gar nicht aufzufangen ist, dass von Utopien nur noch der Traum des grossen Untergangs geblieben ist.
Die jetzt einsetzende politische Diskreditierung aller GegnerInnen des Weltsystems wird jede Bewegung schwächen. Die Repression wird an Legitimation gewinnen. Die Brandmarkung derer, die schwarze Klamotten lieben oder Schaufenster einschmeissen, als Terroristen auf dem direkten Weg nach Manhattan wird die Spaltung unter den AktivistInnen beschleunigen. Das wird so kommen, morgen. Noch aber überwiegt der Schrecken, das Mitleid, noch werden uns Bilder begleiten, die länger halten als die der einstürzenden Wolkenkratzer.
Bilder von Menschen, die sich mit dem Sprung von den brennenden Türmen zu helfen glaubten.
Siehe auch den Rückblick auf diesen Text in der Ausgabe vom 14. September 2006.