Nordirak: Wie ein Körper ohne Herz
Bei den kommenden politischen Auseinandersetzungen wird der Status von Kirkuk zentrales Thema sein. Die KurdInnen wollen auf die Stadt auf keinen Fall verzichten.
Man könne von den Kurden in vielem Zugeständnisse erwarten, sagte Sami Abdul Rahman vor einiger Zeit in einem Gespräch. Nur nicht in der Frage von Kirkuk. Nicht zuletzt wegen Kirkuk hatten die KurdInnen jahrzehntelang gegen das irakische Regime gekämpft, immer hatten sie verhandelt, immer wieder waren sie gescheitert. Das werde jetzt, nach dem Sturz des Regimes, nicht noch einmal passieren, sagte Sami Abdul Rahman. Am Samstag riss ein Selbstmordattentäter den kurdischen Politiker in den Tod, als dieser ihm die Hand reichte. Beinahe zeitgleich waren zwei Selbstmordattentäter in die Vertretungen der Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) in Arbil eingedrungen, wo anlässlich des islamischen Opferfestes gerade grosse Empfänge stattfanden, und sprengten sich in die Luft. Bei den Anschlägen starben mehr als hundert Menschen.
Im Jahr 1970 hatte die KDP mit Bagdad ein Autonomieabkommen ausgehandelt. Vier Jahre lang verhandelte Sami Abdul Rahman, der seit den sechziger Jahren im Führungskader der KDP war, über die Umsetzung des Abkommens. Dabei gelang es den Kurden, dem Regime weitreichende Zugeständnisse abzuringen. Auf Bagdader Seite stand ihnen ein junger, aufstrebender Politiker gegenüber, der sich mit dem Abkommen die Sicherung seiner Stellung in der Hierarchie der Baath-Partei erhoffte: Saddam Hussein. Kurdisch wurde neben Arabisch zur zweiten Amtssprache, in Kirkuk erlebten kurdische Kultureinrichtungen eine Zeit der Blüte, und selbst ein Teil der Polizeigewalt wurde den KurdInnen unterstellt. Viele KurdInnen in Kirkuk errinnern sich heute an diese Zeit oft als an ein kurzes goldenes Zeitalter. Die Verschnaufpause währte nicht lange. Die Gespräche scheiterten schliesslich, weil Bagdad den von der KDP geforderten Autonomiestatus für die Regionen um Kirkuk, Chanakin und Sindschar ablehnte. Auch in der Frage der Verteilung der Erdöleinkünfte erzielte man keine Einigkeit. Die KDP nahm den Guerillakampf wieder auf, der aber bereits ein Jahr später in sich zusammenbrach, als das Nachbarland Iran den kurdischen Peschmerga-KämpferInnen seine Unterstützung entzog. Schätzungsweise 250 000 KurdInnen flohen in den Iran.
Für die KurdInnen von Kirkuk folgten die bleiernen Jahre. Das Regime liess die Kultureinrichtungen nach und nach schliessen, tausende landeten im Gefängnis, viele wurden aus dem Staatsdienst ausgeschlossen. 1976 erliess das Regime eine Gebietsreform, die zahlreiche kurdische Bezirke um Kirkuk Provinzen mit arabischer Mehrheit zuschlug. Zeitgleich brachte Bagdad ein systematisches Umsiedlungsprogramm auf den Weg. Während AraberInnen aus dem Süd- und Zentralirak durch Geldzahlungen und den kostengünstigen Kauf von konfisziertem kurdischem Haus- und Bodenbesitz nach Kirkuk gelockt wurden, hatten es KurdInnen immer schwer; schliesslich wurde es für sie sogar unmöglich, in der Stadt Grundbesitz zu erwerben. In so genannten Mustersiedlungen, die zeitweise nichts anderes als Internierungslager waren, wurden zehntausende DörflerInnen angesiedelt, ihre Ländereien teils an arabische SiedlerInnen übereignet.
Im Schatten des Iran-Irak-Kriegs gelang es der kurdischen Guerilla, Teile Kurdistans unter Kontrolle zu bekommen. Als das Regime sogar Kirkuk an die Peschmerga zu verlieren drohte, entschloss es sich zum endgültigen Gegenschlag. Unter Federführung von Saddams Vollstrecker Ali Hassan al-Madschid wurden 1987 die Grundzüge für den Auslöschungsfeldzug beschlossen. In acht Offensiven verwüsteten die Streitkräfte 1988 rund 4000 kurdische Dörfer. Nach einer Untersuchung von kurdischen ÄrztInnen setzte die irakische Luftwaffe dabei in 200 Fällen Giftgas ein. Beim Gasangriff auf die Grenzstadt Halabscha starben im März 1988 etwa 5000 Menschen. Wem es gelang, aus den Dörfern zu fliehen, wurde später zu den regionalen Sammelstellen getrieben und von dort ins Gefängnis gebracht. Mehrere zehntausend wurden auf der Stelle abtransportiert und hingerichtet. Andere Gefangene kamen nach einer Generalamnestie im September 1988 zwar wieder frei, doch an eine Rückkehr in die früheren Dörfer war nicht zu denken. Wie schon die Vertriebenen der siebziger Jahre wurden sie in Lagern angesiedelt, die leicht zu kontrollieren waren. Zwischen Kirkuk und dem ebenfalls ölreichen Chanakin an der iranischen Grenze gab es keinen kurdischen Weiler mehr.
Kurdistan ohne Kirkuk, das sei wie ein Körper ohne Herz, sagte Sami Abdul Rahman in dem Gespräch. Wenn heute AraberInnen in Kirkuk unter der Losung «Kirkuk ist arabisch» demonstrieren, dann legen sie den Finger in die historische Wunde der KurdInnen. Kirkuk mit seinem Ölschatz ist für sie nicht nur eine Frage des ökonomischen Überlebens. Vielmehr geht es ihnen um die Wiedergutmachung von jahrzehntelangem Unrecht.