PKK-Aussteiger:innen: Das Leben nach der Revolution
Zehntausende Kurd:innen haben sich in den letzten Jahrzehnten der PKK angeschlossen. Viele haben der Guerilla später den Rücken gekehrt – und sind unter Druck geraten. Drei ehemalige Kämpfer:innen erzählen.
Als er zwanzig Jahre alt war, beschloss Baran Metin, «in die Berge» zu gehen. Es war Ende der neunziger Jahre, der Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung in vollem Gang: Tausende Aktivistinnen, Anwälte und Politikerinnen sassen in Gefängnissen, die Armee hatte unzählige Zivilist:innen ermordet und Tausende Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Millionen Kurd:innen waren auf der Flucht. «Die Berge»: Sie standen für die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans. Und die PKK stand in den Augen vieler für Widerstand, Gerechtigkeit und Würde.
Aufgewachsen war Metin in einem Dorf im Südosten der Türkei, fürs Studium zog er nach Ankara. Als Kurde habe er dort ständig Ausgrenzung erfahren, erzählt er, wegen seines Aktivismus habe ihn die Polizei verhaftet und gefoltert. «Es gab damals keine Alternative zur PKK.» Das politische System sei zu korrupt und der parlamentarische Weg zu mehr Rechten damit keine Option gewesen. Metin heisst eigentlich anders, aber wie alle anderen ehemaligen Kämpfer:innen, die in diesem Text zu Wort kommen, möchte er nicht mit richtigem Namen zitiert werden. Das Gespräch findet per Videocall in den Nordirak statt, wo er heute wohnt.
Ausschlaggebend für den Entscheid, aufseiten der PKK zu kämpfen, sei die Ermordung eines zwölfjährigen kurdischen Jungen durch die türkische Armee gewesen. «Sie erschossen ihn mit dreizehn Kugeln», sagt Metin – «mehr Kugeln als sein Alter.» Drei Tage später war er in den Bergen. «Ich dachte, ich überlebe sechs Monate, vielleicht ein Jahr.» Doch er überlebte länger: Dreizehn Jahre lang kämpfte Metin in den Bergen der Türkei und des Nordirak. Innert kurzer Zeit stieg er in der militärischen Hierarchie auf, wurde zum hochrangigen Kommandanten.
Harte Strafen
Mit den Jahren habe aber die Desillusionierung eingesetzt, sagt Metin. «Jeden Monat starben einige Freund:innen und Verwandte im Kampf», erzählt er, «doch der türkische Staat war immer noch da und die kurdische Bevölkerung noch immer unterdrückt.» Zudem habe er die Denkweise der PKK zunehmend als stalinistisch empfunden. «Es war unmöglich, die Führung zu kritisieren, geschweige denn Abdullah Öcalan, den Gründer und Anführer der Partei», meint Metin. Er sei in die Berge gegangen, um frei zu sein. «Doch frei war nur, wer nicht kritisch war.»
Als sich Metin für einen Auftrag in Sulaimanijah befand, einer Stadt im Süden der autonomen kurdischen Region des Nordirak, beschloss er, die Partei zu verlassen. Doch statt wie die meisten anderen Ausstiegswilligen einfach zu fliehen und sich den Peschmerga – den rivalisierenden kurdischen Soldat:innen im Nordirak – zu ergeben, informierte er seine Genoss:innen per Telefon über den Entscheid. Ein Fehler: Kurz darauf wurde er von der PKK entführt und inhaftiert.
Zerin Sayan kämpfte sechzehn Jahre lang für die Revolution, bevor sie sich entschied, die PKK zu verlassen. «Nach Öcalans Festnahme duldeten wir Frauen es nicht mehr, von Männern kommandiert zu werden», erzählt die Kurdin, ebenfalls per Videoanruf aus dem Nordirak. Abdullah Öcalan hatte die Geschicke der Partei zwei Jahrzehnte lang von Damaskus aus gelenkt. Als Syriens damaliger Diktator Hafis al-Assad ihn 1998 auf Druck der Türkei aus dem Land wies, ging er zuerst nach Russland und dann nach Europa – bevor er 1999 in Kenia vom türkischen Geheimdienst gefasst wurde. Auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer verbüsst er seither eine lebenslange Haftstrafe.
Die Befreiung und die Gleichstellung der Frauen werden von Öcalan und gemäss PKK-Ideologie als grundlegend für die Befreiung der kurdischen Nation gesehen. «Frauen waren bereits bei der Gründung der PKK dabei und begannen in den Neunzigern, als Frauen in grosser Zahl beitraten, autonome Frauenkommandostrukturen aufzubauen», erklärt Isabel Käser von der Universität Bern. Im Rahmen ihrer Forschung zur PKK hat die Sozialanthropologin Dutzende Interviews mit aktiven und ehemaligen Kämpfer:innen im Nordirak und der Schweiz geführt. Der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung innerhalb der Partei dauere bis heute an, sagt sie.
Gemeinsam mit anderen Kämpferinnen gründete Zerin Sayan kurz nach Öcalans Verhaftung die PJKK, die Arbeiterinnenpartei Kurdistans. Die PKK-Führung beschuldigte die Frauen daraufhin, gegen die Partei zu arbeiten, und sperrte sie für ihren Aktivismus ein Jahr lang ins Gefängnis. «Als ich rauskam, rannte ich davon», erzählt Sayan. Zuerst ging sie nach Mosul, später nach Koya im kurdischen Nordirak. «Ich hatte Angst vor den Vergeltungsmassnahmen.» Nicht unbegründet: «Wer die PKK verlässt, gilt als Verräter:in», sagt Forscherin Käser. Je hochrangiger die Person, desto härter würden die Strafen ausfallen.
Zwischen den Fronten
Wie hart die Bestrafung sein kann, musste auch Baran Metin erfahren. «Sie sperrten mich in eine Höhle ein, ohne Licht, ohne Luft», erzählt er. Über das Haftsystem der PKK werde nur selten gesprochen, sagt Käser. «Klar ist, dass zahlreiche PKK-Kämpfer:innen in internen Gefängnissen sitzen, weil sie entweder die Partei verlassen wollten oder eine der Parteiregeln missachtet haben.» Sex oder das Führen einer heimlichen Beziehung etwa seien strengstens verboten. In vielen Fällen gebe die PKK ihren eingesperrten Kämpfer:innen die Möglichkeit, freizukommen, sofern sie Reue zeigten und Loyalität und Treue schwörten, so Käser.
Das sei auch bei ihm der Fall gewesen, sagt Metin. Er aber sei bei seiner Entscheidung geblieben. «Der PKK war es egal, ob ich in dieser Höhle sterben würde oder nicht», meint er bitter. Nach fünfzehn Monaten ohne Tageslicht sei er in ein Camp in den nordirakischen Bergen geschickt worden, wo er sich frei habe bewegen dürfen. Weil es ein schneereicher Winter gewesen sei, habe er dort vier Monate lang ausgeharrt. Dann sei er erneut davongelaufen, diesmal zu einem Checkpoint der Peschmerga.
Heute werden sowohl Metin als auch Sayan im Nordirak von der dort herrschenden Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) als politische Flüchtlinge geduldet – zusammen mit Zehntausenden anderen PKK-Aussteiger:innen und deren Nachkommen, die in den letzten vierzig Jahren in der Autonomen Region Zuflucht gesucht haben. Viele von ihnen haben weder Pass noch Papiere, was die Ausreise in ein anderes Land verunmöglicht. Die Aussteiger:innen stecken im Nordirak zwischen militärischen und politischen Fronten fest: Sie werden nicht nur von der Türkei verfolgt, die die PKK als Terrororganisation einstuft. Auch das Verhältnis zwischen KDP und PKK ist angespannt.
Die KDP duldet die PKK zwar, unterhält aber auch wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beziehungen zur Türkei. Sie sieht die Stabilität der Autonomen Region durch die PKK bedroht, weil sich der in den achtziger Jahren begonnene Krieg zwischen der türkischen Armee und der Guerilla in den letzten Jahren vom Südosten der Türkei immer weiter in nordirakisches Territorium verschoben hat. Die PKK unterhält dort heute Dutzende Stützpunkte. Gleichzeitig hat die Türkei Tausende Soldaten auf über hundert Aussen- und Kontrollposten auf irakischem Territorium stationiert und greift die PKK regelmässig mit Drohnen an – unter stillschweigender Zustimmung der KDP und der Regierung in Bagdad. Alle Parteien wollen also dasselbe: dass die PKK geschwächt wird und von irakischem Territorium verschwindet.
«Wir fühlen uns irgendwo dazwischen, auf keiner Seite, nicht zugehörig», sagt Sayan. Sich an das zivile Leben zu gewöhnen, sei schwierig gewesen, erzählt sie. Auch sie war zur hochrangigen Kommandantin aufgestiegen. «Als Kämpferinnen waren wir 24 Stunden am Tag aktiv, wir führten Krieg, betrieben Diplomatie, waren Teil von etwas Grossem», erklärt sie. Und dann steige man aus, sitze plötzlich da und starre die Wände an. Man habe keine Arbeit, keine Freund:innen, kenne niemanden. «Ich habe wirklich an diese Revolution geglaubt», so Sayan. «Und wenn du gehst, merkst du, dass du nichts im Leben hast ausser diesem Glauben.»
Zwischen der Türkei und der PKK hat es immer wieder Gespräche und Waffenruhen gegeben. Zu einem längerfristigen Friedensprozess und damit einer möglichen Rehabilitierung und Integration ehemaliger Kämpfer:innen ist es aber nie gekommen. «Wer aussteigt, ist sich selbst überlassen», sagt auch Sozialanthropologin Käser. Es gebe im Nordirak keine Strukturen, die den ehemaligen Kämpfer:innen helfen würden, ins zivile Leben zurückzufinden. Die meisten würden sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs durchschlagen. «Viele ehemalige Guerillas haben keine abgeschlossene Ausbildung, da sie meistens bereits im Jugendalter der PKK beigetreten sind.» Sie lebten in einer prekären finanziellen und rechtlichen Situation. Hinzu kämen gesundheitliche Probleme aufgrund von Kriegsverletzungen und unbehandelten Traumata. «Viele resignieren, sie wollen und können nicht zurück, kommen aufgrund der politischen, legalen und finanziellen Hürden aber auch nicht voran», sagt Käser.
Bleibende Schuldgefühle
Aynur Feran hatte etwas mehr Glück. Sie lebt seit sechzehn Jahren in der Schweiz, zum Gespräch empfängt sie in ihrer Wohnung in einem Zürcher Aussenquartier. Auch sie habe sich nur langsam ans zivile Leben gewöhnt: «Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich zur PKK ging», erzählt sie. «Ich bin quasi in militärischen Strukturen aufgewachsen und hatte mein ganzes Erwachsenenleben als Guerilla verbracht.»
Dreizehn Jahre lang hat Feran für die kurdische Freiheit gekämpft, bevor sie beschloss, auszusteigen. Nach seiner Festnahme habe Öcalan die PKK und den kurdischen Freiheitskampf nicht mehr vertreten, findet sie.
Im Gefängnis formulierte Öcalan eine neue Vision für eine demokratische Zukunft Kurdistans und der Türkei. Das Ziel, ein unabhängiges Kurdistan zu errichten, gab er auf – und sprach stattdessen vom «demokratischen Konföderalismus». Seine Guerilla forderte er dazu auf, den bewaffneten Kampf einzustellen. «Ich konnte diesen Strategiewechsel nicht akzeptieren», sagt Feran. Unzählige Kurd:innen hätten für die Idee der Unabhängigkeit ihr Leben gelassen.
Feran floh in die nordirakische Stadt Dohuk, wo sie sich mithilfe ihrer Familie in der Türkei einen gefälschten irakischen Pass beschaffte. Mehrere Male versuchte sie, über den Iran nach Europa zu gelangen, wurde aber immer wieder in den Nordirak zurückgeschafft. Schliesslich beantragte sie auf der Schweizer Botschaft in Bagdad Asyl, was damals noch möglich war. «Drei Monate später war ich in der Schweiz.»
Auch Feran war schwer traumatisiert, die Erinnerungen an den Krieg und die getöteten Kamerad:innen wogen schwer. Immerhin: Im Gegensatz zu den PKK-Aussteiger:innen im Nordirak erhielt sie in der Schweiz Unterstützung. «Drei Jahre lang besuchte ich das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer in Bern», erzählt sie. Bis heute aber werde sie von starken Schuldgefühlen geplagt, weil sie ausgestiegen sei und ihre Kamerad:innen zurückgelassen habe. «In den Bergen hält man zusammen, man teilt alles, erlebt alles zusammen», sagt Feran und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Es falle ihr noch immer schwer, darüber zu sprechen.
Auch Zerin Sayan erzählt von Schuldgefühlen, die sie noch lange nach dem Ausstieg geplagt hätten: «War es falsch, aufzugeben, nachdem so viele meiner Freund:innen ihr Leben für diese Revolution gegeben haben?» Von einem freien Kurdistan träume sie noch immer. Aber letztlich habe die PKK ihre Mission gewissermassen bereits erfüllt: «Bevor es die PKK gab, haben die Kurdinnen und Kurden nicht für sich selbst gesprochen», sagt Sayan, «sie konnten noch nicht einmal sagen, dass sie kurdisch sind.» Heute sei das anders, die unterdrückten Menschen seien wachgerüttelt worden. Sie aber habe ihren Krieg gehabt: «Es ist Zeit für einen neuen Weg.»