Nordirland: Wie Frauen und Linke die IRA-Partei Sinn Féin politisierten : Wem gehört Bobby Sands?

Anfang der achtziger Jahre kam mit dem grossen Hungerstreik der republikanischen Gefangenen die Wende. Die irische Rebellenbewegung IRA entschied sich für den parlamentarischen Weg zur Lösung des Konflikts – mit Hilfe ihrer heutigen KritikerInnen.

Am 1. März 1981 verweigerte der irisch-republikanische Gefangene Bobby Sands, der von einem Sondergericht wegen Waffenbesitz zu vierzehn Jahren Haft verurteilt worden war, erstmals das Essen. 65 Tage später war er tot. Sieben Tage danach starb der legendäre Guerillaführer Francis Hughes ebenfalls an den Folgen seines Hungerstreiks. Ihm folgten nacheinander acht weitere Gefangene in den Tod.

Auch zwanzig Jahre später raubt mir die Ungeheuerlichkeit der damaligen Ereignisse den Atem. Der Mut und die Entschlossenheit von zehn gewöhnlichen Menschen, die unter ungewöhnlichen Umständen handelten hatte heroische Züge. Vielleicht sind zwanzig Jahre zu kurz, um die historische Bedeutung der damaligen Ereignisse zu erfassen. Und doch scheint jene Periode einer anderen Ära anzugehören; das macht es unmöglich, die Entfernung in Zeit zu messen. Die Erinnerung teilt die Geschehnisse und tragischen Vorfälle des langen Konflikts in zwei Sorten – Ereignisse, die vor den Hungerstreiks geschahen, und jene, die danach passiert sind. Merkwürdigerweise erinnert sich der mittlerweile akzeptierte Republikanismus von Sinn Féin und IRA nicht mehr an die Zeit «vor Bobby Sands». Dabei war da die Bürgerrechtsbewegung von 1968, die mit der Ankunft der britischen Truppen 1969 zu Ende ging. Dann gab es 1972 den «Bloody Sunday» von Derry. Dann die Hungerstreiks 1980 und 1981. Und dann gab es Sinn Féin, den Friedensprozess und Sieg oder Niederlage – wobei die Bewertung davon abhängt, wer sich erinnert.

Gedenktage verhindern jede Diskussion. Brendan «Bic» McFarlane, IRA-Kommandant der Gefangenen während des 1981er Hungerstreiks, hatte recht, als er sagte, dass «die Hungerstreiks das Fundament gelegt haben, auf dem die Bewegung stärker werden konnte». Aber es gibt keine Diskussion über den Charakter dieses Fundaments oder über die Richtung, die der Friedensprozess danach einschlug. Es fehlt auch jede Auseinandersetzung darüber, wie wir alle in den Sog dieses Kampfes auf Leben und Tod geraten konnten. Stattdessen beschäftigt man sich mit Anekdoten und konzentriert sich auf das Heldentum der Hungerstreikenden und ihrer Familien. Genauso beunruhigend ist freilich die von republikanischen DissidentInnen aufgeworfene Frage, wofür die Hungersteikenden eigentlich gestorben sind. Haben sie sich (von heute aus betrachtet) umsonst geopfert? Mir gefällt diese Fragestellung nicht. Es ist ja schon falsch, dass überhaupt jemand sterben muss für Fortschritt, Frieden oder Gerechtigkeit. Wie sollen wir da beurteilen, welcher Tod den Verlust «wert» war? Manchmal lässt sich ein Tod nicht vermeiden, aber das Sterben kann nie Ziel der Übung sein.

Wer weiss: Hätte der charismatische Bobby Sands die Haft überlebt, wäre er heute vielleicht nordirischer Kulturminister oder gar Präsident von Sinn Féin. Gewiss, man braucht viel Phantasie, um sich Francis Hughes in den Korridoren der Macht vorzustellen; aber Martin McGuinness (ein ehemaliger IRA-Kommandant, d.Red.) scheint sich in seiner Ministerrolle recht wohl zu fühlen. Wir werden nie wissen, wie Sands oder Hughes das Karfreitagsabkommen, die Aufgabe alter Prinzipien, die Teilnahme an Wahlen, das Bündnis mit der irischen Regierung, den Waffenstillstand und die Hinnahme der irischen Teilung beurteilt hätten. Sie waren tot, bevor diese Themen auf die Tagesordnung kamen.

Wofür sind Irlands Söhne (und Töchter!) gestorben? Diese Frage hat die republikanische Bewegung schon immer bewegt. Dabei ist der Ansatz, die Korrektheit einer Position mit dem Argument zu begründen, gute Leute seien dafür gestorben, grundfalsch. Alle gedenken in diesen Tagen der Hungerstreiks, aber die Erinnerung leidet an einer fundamentalen Schwäche: Niemand analysiert den damaligen Kontext. Die nordirische Regierungspartei Sinn Féin hat kein Interesse daran, weil sie vor den Hungerstreiks nur eine marginale Rolle spielte. Die Partei war vor zwanzig Jahren bloss eine Hilfsorganisation der IRA; ihre wenigen Mitglieder hatten keine oder nur geringe politische Erfahrungen. Sie verdankt ihre Glaubwürdigkeit den Hungerstreiks.

Ausbruch aus dem Zirkel

Aber wer, wenn nicht Sinn Féin, führte die Bewegung zur Unterstützung der Gefangenen an? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir kurz zurückblicken. 1972 hatte die britische Regierung durch das von ihr autorisierte Massaker am «Bloody Sunday» in Derry die friedliche Massenbewegung von den nordirischen Strassen vertreiben können. Nachdem das nordirische Parlament abgeschafft war (1972), die Gespräche mit der IRA fehlschlugen (1972) und das Modell einer Machtteilung am Widerstand der protestantisch-unionistischen Bevölkerung scheiterte (1974), hatte London nur zwei Optionen: Die britische Regierung konnte entweder die Ursachen des Nordirland-Konflikts angehen – oder den Ausdruck der (irisch-katholischen) Unzufriedenheit unterdrücken. London entschied sich für die zweite Variante und erhöhte ab 1974 den Preis für den Widerstand in der Hoffnung, dass irgendwann einmal niemand mehr bereit wäre, ihn zu zahlen.

Viele Menschen vergessen, dass Repression – zumindest kurzfristig – funktioniert. Ab 1974 füllten die Massnahmen des britischen Aufstandsbekämpfungsstrategen Frank Kitson Gefängnisse und Friedhöfe; alle staatlichen Institutionen wurden dem Ziel eines militärischen Sieges über die IRA untergeordnet. Die irisch-republikanische Gemeinschaft geriet unter enormen Druck und verlor aufgrund des britischen Terrors auch den Schutz des gemässigt-katholischen Umfelds. Demonstrationen und Kundgebungen waren nicht mehr möglich, es gab nur noch eine Form des Widerstands – den der IRA. Widerstand wie Repression wurden militarisiert – bis sich der Zirkel schloss und OpportunistInnen alle Ausreden hatten, um sich davonzustehlen.

Dennoch entwickelte sich eine Opposition: Sie entstand in den Reihen der vielen Familien der gefangenen (und toten) RepublikanerInnen und fand eine Form in den Angehörigen-Aktionskomitees. Deren Zahl und Einfluss wuchs in den Jahren ab 1975, gleichzeitig wuchsen aber auch die Spannungen zwischen Sinn Féin auf der einen und den unabhängigen RepublikanerInnen und kleinen linken Gruppen auf der anderen Seite. Diese Spannung entlud sich erstmals auf einer Antirepressionskonferenz 1977, die das Angehörigen-Aktionskomitee von Coalisland einberufen hatte, dem ich angehörte.

Sinn Féin vertrat die Position, dass die Gefangenen nur unterstützen dürfe, wer auch den bewaffneten Kampf gutheisse. «Unterstützt die Gefangenen, unterstützt den Krieg», lautete ihre Parole. Andere (wie ich) argumentierten, dass die Forderungen der Gefangenen in den Mittelpunkt gestellt werden müssten und alle willkommen seien, die diese Forderungen (siehe «Der Kampf der Erben» im Anschluss an diesen Text) teilen. Sinn Féin unterlag auf dieser Konferenz. Ein Gegenantrag, der die Solidarität mit den Gefangenen von einem IRA-Waffenstillstand abhängig machen wollte, fand ebenfalls keine Mehrheit.

Die Sache war damit nicht entschieden. Sinn Féin stand den Gefangenen schon organisatorisch näher als die unabhängige Linke, und so kam es bald danach zum nächsten Krach. 1979 standen Wahlen zum Europaparlament an. Sinn Féin lehnte den Vorschlag, die Wahl taktisch zu nutzen, kategorisch ab. Mit einer Intervention, so argumentierten wir, könne der Kampagne zugunsten der Gefangenen mehr Öffentlichkeit verschafft werden. Zu diesem Zeitpunkt waren den Gefangenen schon längst die Kleider, die Bücher, das Schreibzeug und die Betten weggenommen worden. Doch Sinn Féin erhob erneut die alte Vorbedingung – erst müsse der bewaffnete Kampf unterstützt werden. Die Konferenz, die wir zur Diskussion der Differenzen einberufen hatten, wurde von einem IRA-Kommando unterbrochen. Es verlas ein Statement, das den Anwesenden verbot, über eine Wahlbeteiligung auch nur nachzudenken. Nachdem die maskierten Männer wieder verschwunden waren, votierten die KonferenzteilnehmerInnen – überwiegend Frauen – mit grosser Mehrheit für die Teilnahme an der Wahl.

Diese endete mit einer Überraschung: Über 35 000 Menschen stimmten – trotz der Opposition von Sinn Féin und IRA – für KandidatInnen, die sich ausschliesslich für die Rechte der Gefangenen stark gemacht hatten. Daraufhin akzeptierte Sinn Féin die Strategie der Politik; wir gründeten ein nationales Komitee, und die Gefangenen formulierten ihre Forderungen. Im Oktober 1980 begann dann der erste, heute fast vergessene Hungerstreik.

Massenmobilisierung und Ernüchterung

Ab Ende Oktober 1980 verweigerten sieben Gefangene die Nahrungsaufnahme. Die Komitees konnten in fast allen 32 Grafschaften, also auch in der Republik Irland, lokale Unterorganisationen bilden und ein internationales Solidaritätsnetz schaffen, dem Befreiungsbewegungen, Menschenrechtsorganisationen und andere fortschrittliche Gruppen angehörten. Gewerkschaftsmitglieder organisierten Kundgebungen vor den Werkstoren und luden Komiteemitglieder in Werkskantinen ein; manchmal wurde danach die Arbeit niedergelegt. In ganz Irland fanden Treffen und Geldsammlungen statt, und überall mobilisierten SympathisantInnen für eine nationale Grosskundgebung in Dublin. Dort forderten wir von der irischen Regierung eine Intervention zugunsten der Gefangenen. Allein aus der Kleinstadt Coalisland reisten 1200 EinwohnerInnen (ein Viertel der Bevölkerung) an.

Am Donnerstag vor Weihnachten war der Hungerstreik vorbei. 53 Tage nach seinem Beginn – einer der Gefangenen hatte nur noch Stunden zu leben – wurde eine Lösung gefunden, so schien es jedenfalls. Die Art und Weise, in der der Kompromiss ausgehandelt worden war, gab den Ton vor für spätere Gespräche. Niemand vom nationalen Komitee wusste von den Verhandlungen. Sie wurden irgendwo zwischen Sinn Féin, der IRA, der irischen und der britischen Regierung geführt. Die Gefangenen warteten vergeblich auf die Umsetzung der Vereinbarung. Ende Januar 1981 war erneut von einem Hungerstreik die Rede, aber ausserhalb der Gefängnismauern war der Dampf draussen und die Massenbewegung ins Stocken geraten. Ein Gefühl von Machtlosigkeit verbreitete sich. Im Endeffekt war es doch ein Kampf der IRA gewesen – sie hatte mit den Briten ein Geheimabkommen getroffen und war betrogen worden. Danach sollten die Leute, die die IRA nicht einmal konsultiert hatte, von vorne beginnen.

Denn am 1. März 1981 war es wieder so weit. Diesmal wurde die Bewegung in Wahlkämpfen entfacht. Bobby Sands und Kieran Doherty gewannen jeweils einen Sitz (Sands im britischen Unterhaus, Doherty im irischen Parlament) und verloren ihr Leben. Doch die Massenaktionen erschöpften sich grossteils in Gebeten, Mahnwachen und Beerdigungen. Im August beendeten die Gefangenen ihren Hungerstreik ohne Konzessionen von der Gegenseite. Sie hatten moralisch gewonnen und erhielten später das Recht, ihre eigenen Kleider zu tragen und Gefängnisarbeit zu verweigern. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Moral und Sieg, und auch die Moral war teuer erkämpft. Zehn Gefangene starben, vier Mitglieder des nationalen Unterstützungskomitees wurden ermordet.

Die Briten lernten, welche Bedeutung die Gefangenen für die republikanische Gemeinde hatten. Der Versuch, die Gefangenen zu brechen, war fehlgeschlagen; sie einzubeziehen (und später freizulassen) wurde zu einem zentralen Element jeder politischen Lösung. Auch Sinn Féin lernte dazu, vor allem auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit und der Wahlkämpfe. Aus einer Organisation zur Unterstützung des bewaffneten Kampfes wurde ein politischer Apparat, mit dem zu rechnen war. Der wusste bald, wie er mit Hilfe der katholischen Kirche und der irischen Regierung in London Gehör finden konnte.

Nach dem Hungerstreik begriffen Sinn Féin und die IRA, dass es Zeit war, den Krieg zu beenden. Es brauchte zwar noch ein Jahrzehnt, bis sie sich sicher genug fühlten, aber die Arbeit für eine politische Lösung begann an dem Tag, als der Hungerstreik vorbei war. Dass sich die Führungen dafür entschieden, ihr Bett in der Politik des nationalen Bürgertums aufzuschlagen, ist eine ganz andere Frage.

Der Kampf der Erben

Wo würde Bobby Sands heute stehen? Auf diese Frage lassen sich die derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der irisch-republikanischen Bewegung zuspitzen. Sinn Féin, die an der nordirischen Regionalregierung beteiligt ist und dafür ihr Ziel einer irischen Vereinigung auf später verschoben hat, reklamiert Sands für sich. Doch auch die militaristischen GegnerInnen des Karfreitagsabkommens von 1998 sehen sich als die wahren HüterInnen seines Vermächtnisses. Bobby hätte dem «Ausverkauf» der Sinn-Féin-Führung nie zugestimmt, sagt beispielsweise seine Schwester Bernadette Sands-McKevitt. Ihr Ehemann gilt als Führer der Real IRA.

Der Kampf der Gefangenen begann 1976, als die britische (Labour-)Regierung den inhaftierten RepublikanerInnen die 1972 gewährte Anerkennung als politische Häftlinge entzog. Diese lehnten daraufhin die von den Gefängnisverwaltungen verordnete Häftlingskleidung ab; so blieben ihnen nur Wolldecken. Die Inhaftierten verlangten eine Behandlung als politische Gefangene und forderten das Recht auf eigene Kleidung, Abschaffung der Knastarbeit, freie Zusammenkunft, normalen Besuchs- und Briefverkehr und die Wiederherstellung des für republikanische Gefangene früher üblichen Strafnachlasses.

Die Autorin des Artikels hat die Auseinandersetzung hautnah erlebt. Bernadette Devlin war die prominenteste Vertreterin der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren und ab Ende der siebziger Jahre Sprecherin der nationalen Komitees zur Unterstützung der Gefangenen. In dieser Eigenschaft geriet sie ins Fadenkreuz der Aufstandsbekämpfer: Mitte Januar 1981 wurde sie von einem probritischen Killerkommando überfallen. Bernadette und ihr Mann Michael McAliskey überlebten den Anschlag nur mit viel Glück – sie hatte sieben Kugeln im Leib, er vier.

Pit Wuhrer