Palästina: Er lebt und ist doch tot: Die produzierte Leere

Während die USA sich auf ihren Krieg in Afghanistan vorbereiteten, wurde auch Palästina grosse Aufmerksamkeit zuteil. Es herrschte praktisch durchgängig Einmütigkeit, dass die Lösung des Palästinaproblems kräftig helfen würde, den Grund der riesigen Frustration unter AraberInnen und MuslimInnen zu beseitigen. Die meisten KommentatorInnen spielten herunter, dass Usama Bin Laden die palästinensischen Leiden als Grund anführte, das zu tun, was er tat. Doch letztlich ist offensichtlich, dass sie für ihn einen stichhaltigen Grund bildeten. Wen interessiert es schon, ob irgend jemand Bin Laden glaubt – was zählt, ist, was Bin Laden selbst glaubt, denn das motiviert ihn am meisten. Amerika ist für ihn die Quelle alles Teuflischen.

Wir PalästinenserInnen hofften stark darauf, dass es im Zentrum des ganzen Schlamassels zu einem Durchbruch kommen könnte, besonders weil der US-amerikanische Präsident die Worte «Palästinensischer Staat» aussprach. Nachdem die zweite Intifada nun schon länger als ein Jahr anhält und nach all den Schäden, Opfern und Verlusten, lasen wir euphorisch über die vielfältigen Anstrengungen, ein Ende der israelischen Besetzung herbeiführen zu wollen. Doch dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon gelang es, sämtliche Be- mühungen, Pläne und Missionen zu blockieren. Weder US-AmerikanerInnen noch EuropäerInnen konnten genügend Druck auf den «Bulldozer» – so nennen ihn die Israelis in Anspielung auf seine Männlichkeit und sein Vermögen, Schaden anzurichten – ausüben.

Nur auf Jassir Arafat wirkte der Druck. Er war biegsam genug. Arafat führt nun die US-amerikanisch-israelische Agenda aus, um zu beweisen, dass er vertrauenswürdig und der legitime Anführer aller PalästinenserInnen ist. Wird Arafat überleben? Er wird. Aber zu welchem Preis und mit welchen Resultaten?

In diesen Tagen stellen sich die PalästinenserInnen sehr schwierige Fragen, manche zum ersten Mal. «Sind Selbstmordanschläge ein richtiges Mittel in unserem Kampf? Welche Alternativen dazu gibt es?» Diese Fragen deuten nicht so sehr Antworten an als das Vakuum, die Leere an der Stelle, an der eine politische Art von Widerstand hätte entwickelt werden sollen – und stattdessen unsere Führung die Revolution anhielt; aufhörte, über «Besetzung» zu sprechen; und glaubte, sie sei ein Staat.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) verdrängte seit ihrer Gründung 1993 praktisch jeglichen politischen Ausdruck, den sich der palästinensische Kampf in den letzten fünf Jahrzehnten erschaffen hatte. Ein Beispiel ist die geschwundene Bedeutung der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, des früher einmal dynamischen politischen Rahmens, der praktisch alle säkularen politischen Fraktionen vereinte. Ein anderes Beispiel für den politischen Verfall ist das Verschwinden des Palästinensischen Nationalrates (PNC). Der PNC war die repräsentativste und demokratischste aller palästinensischen politischen Institutionen. Der PNC vertrat die PalästinenserInnen unter der Besetzung und jene in der Diaspora. Palästinensische Gemeinschaften in Lateinamerika wie palästinensische Gemeinschaften im elendesten Flüchtlingslager in Jordanien waren im Nationalrat vertreten. Der PNC war unser Parlament im Exil.

Das heutige Vakuum in unserem politischen Leben entstand aus der Abwesenheit politischer Organe, Netzwerke und Errungenschaften. Wir alle wissen, dass diese Kräfte zum Verschwinden gebracht wurden – durch die autokratischen Autonomiebehörden, die alle Macht unter ihrer Kontrolle haben wollen.

Deshalb haben wir keine Opposition ausser den islamistischen Bewegungen Hamas und Islamischer Dschihad; deshalb ist die einzige existierende Alternative zur Mittelmässigkeit der PNA der Fundamentalismus der islamistischen Extremisten.

Wie viele andere habe ich genug von dieser fatalistischen Art des Widerstands, den Hamas und Islamischer Dschihad anführen. Ein breites Spektrum von politischem Widerstand wurde durch ihre Agenda gekidnappt. Wir wissen, dass uns dies nirgendwo hinbringt. Viele Menschen, Intellektuelle und andere, haben genug und sagen das, privat und öffentlich. Sie sind frustriert darüber, dass wir keine demokratische politische Institution besitzen, die unseren Kampf anführt.

Jetzt müssen sich alle PalästinenserInnen an einer Debatte über unser Schicksal und unsere Zukunft beteiligen. Das geht nur durch die Wiederbelebung jener Institutionen, die alle PalästinenserInnen repräsentieren, egal, wo sie sich befinden. Wir brauchen den PNC, damit er die PNA überwacht. Die PalästinenserInnen sind vielfältiger als ihre autokratischen Behörden und die fatalistische Widerstandsbewegung, die ihren Kampf anführt.