Klimapolitik: Bündner Bäuer:innen testen die Zukunft

Nr. 11 –

Ohne Klimaziele und griffige Massnahmen: Der Nationalrat weicht bei der neusten Agrarreform den drängenden Fragen aus. Wie es anders geht, zeigt sich auf einem Hof in Filisur.

Marcel Heinrich mit zwei Kühen auf seinem Biohof in Filisur
«Die Kühe und die Bergbauern sind unzertrennlich»: Marcel Heinrich ist sich bewusst, dass sich Mutterkuhhaltung negativ auf die Klimabilanz auswirkt, «aber am Ende bleibt es eine emotionale Frage».

Vor Marcel Heinrichs Biohof und dem Wohnhaus steht ein Hüttchen. Der Hofladen, sauber aus Holz gezimmert, fernab von Misthaufen und Stallgeruch, würde auch als Vorbau einer hippen Bar auf den Engadiner Skipisten durchgehen. Im Innern sind Heinrichs Produkte sauber in Holzgestellen und Kühlregalen aufgereiht: Bergkartoffeln und Gerste, Öl und Sirup, Fleischprodukte, Eier, Käse. Und Ackerbohnen für Gebäck, Suppen, Hummus und Falafel. Auf der Terrasse lädt eine Sitzbank zum Verweilen ein. Heinrich nimmt darauf Platz. «Gestern habe ich Heuballen gepresst», sagt er, während er sich an den Rücken fasst. «Das wirkt heute noch nach.»

Heinrich verschränkt die Arme. Von der Bank blickt er über das Ackerland. Das Feld liegt nach der Getreideernte des letzten Jahres nicht brach, sondern ist mit Gründüngung überdeckt. Das spiele eine wichtige Rolle, damit die Nährstoffe nicht aus dem Boden ausgewaschen würden, erklärt er. Dem Mann mit der kräftigen Statur ist anzusehen, dass er sich in der Rolle des Erzählers unwohl fühlt. Heinrich scheint auf den ersten Blick wie der Archetyp eines ländlichen Kleinbauern. Einer dieser sturen Berglandwirte, die ihr Ding durchziehen, weil sie es halt nicht anders kennen. Einer, der sich nicht für jeden Schritt seiner Arbeit rechtfertigen will. Doch damit ist es mit den Klischees auch schon vorbei.

Jeden Kreislauf schliessen

Bei der Besichtigung seines Hofs führt Heinrich als Erstes in den Auslaufstall. Im Innern reckt behorntes Rätisches Grauvieh den Kopf durch das Gatter, um vom Heu zu zehren, das auf der anderen Seite der Abschrankung liegt. Kraftfutter gibt es auf Heinrichs Hof seit rund fünfzehn Jahren nicht mehr. «Feed no Food» nennt sich die Strategie, verfüttert keine Lebensmittel. Das Grauvieh, besonders robust, sei dafür bestens geeignet, sagt Heinrich. Dreissig Hektaren bewirtschaftet er. 2001 übernahm er den Betrieb in Filisur von seinen Eltern. Sein Vater war aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, diesen zu führen.

So wurde der gelernte Forstwart zum Quereinsteiger, absolvierte die Meisterprüfung und setzte sich das Ziel, auf dem Hof die Kreislaufwirtschaft zu fördern: Futter und Dünger sollen nicht zugekauft werden und die Nährstoffe idealerweise auf dem Hof bleiben. Die Emissionen wiederum werden durch Ausgleichsflächen und stickstoffbindende Pflanzen wie etwa die Ackerbohne kompensiert. Anzeichen dafür sind hier überall vorzufinden: So liegen auf dem Heu kleine Haufen Pflanzenkohle. Sie sorgen dafür, dass das Futter frisch bleibt, sowie für eine bessere Tiergesundheit, und die Kohle bindet überschüssige Nährstoffe im Kuhmagen, was zu wertvollerem Hofdünger führt.

Beim Rundgang zeigt sich schnell, dass hier ein Landwirt spricht, der vor der Jahrtausendwende wohl noch als «Spinner» taxiert worden wäre. Marcel Heinrich ist überzeugt, dass in Zukunft mit den richtigen Pflanzenmischungen Ackerbau- und Ausgleichsflächen zusammengeführt werden können. Dass die Böden dann am geeignetsten für die Landwirtschaft sind, wenn darin möglichst viel kreucht und fleucht. Er ist beflissen, jeden noch so kleinen Kreislauf auf seinem Hof zu schliessen. Heinrich nennt die Klimaerwärmung «das mit Abstand grösste Problem, das es für uns Bauern zu lösen gilt». Denn die Bäuer:innen seien die Ersten, die die Auswirkungen spüren würden – und dennoch fast die Letzten, die der Realität ins Auge blicken wollten.

An diesem Mittwochnachmittag, an dem Heinrich über seinen Hof führt, debattiert in Bern der Nationalrat über die «Agrarpolitik 22+». Vom Vorschlag, den drei Jahre zuvor Wirtschaftsminister Guy Parmelin dem Parlament vorgelegt hat, bleibt wenig übrig. Die Reform sollte neben sozialen und wirtschaftlichen Verbesserungen für die Schweizer Bäuer:innen vereinzelt auch ökologische Massnahmen im Landwirtschaftsgesetz verankern. In der Frühlingssession 2021 entschieden National- und Ständerat, die Beratung zu sistieren. Sie sahen in den Massnahmen zu wenig Weitblick: Um die Ernährungssicherheit zu fördern, sollte nicht bloss die Landwirtschaft, sondern ebenso die Lebensmittelindustrie, der Detailhandel und die Konsument:innen in die Pflicht genommen werden.

Das Parlament forderte deshalb vom Bundesrat einen Bericht zur zukünftigen Ausrichtung der Agrarpolitik bis 2050. Als die «AP 22+» Ende letzten Jahres zusammen mit dem Bericht erneut in den Ständerat kam, nahm die kleine Kammer dies zum Anlass, die wenigen Umweltmassnahmen ersatzlos aus der Vorlage zu streichen. Die erhoffte grosse Agrarreform schrumpfte zum Reförmchen.

Wissenschaft trifft Praxis

Marcel Heinrichs Hof scheint dagegen wie eine Miniversion eines idealen zukünftigen Ernährungssystems: Kartoffeln, Getreide, Hülsenfrüchte sowie reduzierte Tierhaltung ohne Kraftfuttereinsatz, das alles in Bioqualität und verbunden mit geschickter Direktvermarktung. Auch wenn vieles, das Heinrich sagt, als gewieftes Marketing aufgefasst werden könnte – und wirtschaftlich erfolgreich ist er mit seinem Weg sehr wohl –, so meint er es doch absolut ernst. Heinrich macht auch keinen Hehl daraus, dass ihm seine Ideen nicht nur Freund:innen bescheren. Doch was er vor wenigen Jahren teilweise noch alleine durchziehen musste, wird mittlerweile auch vom Kanton finanziell unterstützt und wissenschaftlich begleitet.

Vor vier Jahren initiierte ein Zusammenschluss kantonaler und privater landwirtschaftlicher Akteur:innen das Projekt «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden». Dabei werden bis 2025 auf 52 Pilotbetrieben verschiedenste Umweltprojekte wissenschaftlich begleitet. Während der nachfolgenden fünf Jahre wollen die Initiant:innen die effektivsten Massnahmen auf die gesamte Bündner Landwirtschaft ausweiten. Bis 2050 soll die Agrarproduktion des Kantons klimaneutral sein. So steht es in der Vision des Projekts. Heinrich ist einer der 52 «Klimabäuer:innen», die sich der ersten Phase angeschlossen haben. Das Projekt ist an den «Aktionsplan Green Deal für Graubünden» angegliedert.

Der dreisprachige Bergkanton hat damit erreicht, was andere Kantone weiterhin erfolglos versuchen: klar ausformulierte, branchenübergreifende Klimaziele und Massnahmen zu erstellen. Sozusagen die Mindestanforderung für das erklärte, aber oft stiefmütterlich behandelte Ziel des Pariser Abkommens: netto null bis 2050.

Weshalb ausgerechnet Graubünden? Heinrich überlegt lange, findet aber keine zufriedenstellende Antwort. Natürlich, die Bergregionen seien in der Klimaerwärmung am stärksten exponiert, doch im Wallis beispielsweise gehe es mit dem Klimaschutz deutlich langsamer vorwärts. Bereits beim Biolandbau war Graubünden Pionier: Heute sind über sechzig Prozent der Landwirtschaftsbetriebe biozertifiziert, ein Umstand, der den Einfluss des eher konventionell geprägten Bauernverbands erheblich reduziert. Der Wandel erfolgte zwar oft aus wirtschaftlichen Überlegungen: In den Bündner Bergen fährt man besser, wenn man seine Nische gefunden hat, denn die Berglandwirtschaft benötigt viel Aufwand und bietet wenig Ertrag. Keine Landschaft für Grossbetriebe, aber für innovative Lösungen. Das weiss auch Marcel Heinrich. Sonst würde er sich nicht seit sieben Jahren den Kopf über die effizienteste Kultivierung von Bergackerbohnen zerbrechen.

Etwas mehr als zwölf Prozent aller hierzulande ausgestossenen Treibhausgase gehen auf das Konto der Landwirtschaft. Rund die Hälfte davon wiederum stammt aus der Tierhaltung, etwas, das auch die Bündner Bäuer:innen gerne ausblenden würden. «Als bei unseren Pilotbetrieben rauskam, welchen Anteil die Viehbestände an der Klimabilanz haben, sind viele erschrocken», erzählt Heinrich. Resignation machte sich breit. «Die Kühe und die Bergbauern sind unzertrennlich.» Auch er selbst könne sich nicht vorstellen, auf seine Mutterkühe zu verzichten. «Wir haben das Szenario hier auf dem Hof natürlich durchgespielt», sagt Heinrich. «Am Ende bleibt es aber eine emotionale Frage.»

Die Mutterkuhhaltung komme in der Klimabilanz zwar schlechter weg als die konventionelle, gibt er zu. Denn pro Kuh kann jährlich nur ein Kalb aufgezogen werden – das macht sie beim Ressourcenverbrauch ineffizient. «Wenn man aber bedenkt, dass in der Schweiz einmal Urrinder mit ihren Kälbern weideten und somit ganz natürlich zum Ökosystem gehörten, fällt es mir schwer, diese Haltung als klimaschädlich zu bezeichnen.» Zudem trage die standortangepasste Haltung von Wiederkäuern gar zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit bei, denn ein bedeutender Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche in den Bündner Bergregionen kann bloss als Grün- und Weideland verwendet werden. Die Flächen blieben ohne Wiederkäuer ungenutzt, was die Biodiversität beeinträchtigen würde, und die fehlende Produktivität müsste mit Importen kompensiert werden. Für die Einzelbetriebe kaum das ausschlaggebende Argument, für das gesamte Schweizer Umwelt- und Ernährungssystem aber ein wichtiger Aspekt.

Auch wenn «netto null bis 2050» auf dem Papier ein rasch formuliertes Ziel ist, bleibt die Umsetzung des Klimaschutzes in der Landwirtschaft eine Blackbox. Welche Massnahmen in der Praxis tatsächlich effektiv sind, um die Emissionen zu senken, CO₂ und Ammoniak zu speichern oder Bodenerosion zu verhindern, ist umstritten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Projektgruppe rund um das kantonale Landwirtschaftsamt mit ihrem Vorhaben bei den wissenschaftlichen Forschungsanstalten offene Türen einrannte. Mehrere Wissenschaftler:innen begleiten das Projekt.

«Das Tolle ist, dass wir hier einfach machen können», sagt Heinrich. «Und das, was am Ende tatsächlich funktioniert, kann dann auch grossflächig umgesetzt werden.» Das gehe vom batteriebetriebenen Motormäher über die Errichtung von Baumreihen zur Kohlenstoffspeicherung bis zur Produktion von Pflanzenkohle zur besseren Verwertung von Nährstoffen. Fast jeder Pilotbetrieb hat sein eigenes Klimaprojekt, zugeschnitten auf den Betriebstyp und die regionalen Verhältnisse. Die Bündner Landwirtschaft wird zum Testlabor.

Verdruss über die Politik

Derweil wird in Bern weiterhin abgewartet und blockiert. Auch dank einer unheiligen Allianz: Seit letztem Jahr spannen Economiesuisse, der Arbeitgeberverband, der Gewerbeverband und der Bauernverband zusammen, um ihre Interessen vor dem Volk und im Parlament durchzusetzen. Bei der Debatte im Nationalrat über die «AP 22+» bestätigt der bürgerliche Block denn auch fast geschlossen die Streichwut des Ständerats. Nur vonseiten der SP, der Grünen und der GLP gibt es Widerstand. Ihre Minderheitsanträge blieben alle unbeachtet. Klimaziele? Fehlanzeige. Ein Absenkungspfad für Treibhausgasemissionen? Keine Chance. Förderung von Biodiversitätsmassnahmen? Kaum mehr vorhanden. Frühestens 2030, bei der nächsten Reform, dürfen sich Bund und Parlament erneut an zielführenden Massnahmen versuchen.

Heinrich ist sich bewusst, dass eine klimaschonende Landwirtschaft noch am Anfang steht. Und dass längst nicht alle Bündner Bäuer:innen am selben Strick ziehen. «Natürlich stehen die wenigen Pilotbetriebe nicht für die gesamte Bündner Landwirtschaft», sagt er. «Auch sind nicht alle Teilnehmenden mit demselben Elan dabei.» Sein Gesichtsausdruck deutet an, dass er gerne weiter ausholen würde. Wenn man so denke, wie er es tue, werde man schnell als Grüner abgestempelt, fügt er an. Dabei möchte er mit der Politik nicht mehr allzu viel zu tun haben. Während er früher noch in Kommissionen des Bauernverbands mitwirkte und auch sehr gerne agrarpolitische Entscheide mitverfolgte, schaut er heute lieber einfach auf seinen Betrieb.

Zwischen den Zeilen scheinen Politikverdrossenheit und ein gewisser Zukunftspessimismus durch. Dennoch meldet er sich am Abend nach der Nationalratsdebatte via Mail: «Wir machen weiter, jetzt erst recht!»