Spanien: Letzter Rettungsring für die Lagune

Nr. 20 –

Europas grösste Salzwasserlagune ist am Sterben. Ein EU-weit einmaliges Gesetz erklärt das Mar Menor nun zur juristischen Person, um es zu retten. Vor Ort sind die Reaktionen gemischt.

das Mar Menor an Spaniens Mittelmeerküste
Jede Person kann im Namen der Lagune vor Gericht klagen: Das Mar Menor (rechts) an Spaniens Mittelmeerküste. Foto: Lucas Vallecillos, Laif

Caroline Rivière ist eine selbstbewusste, resolute Frau. Doch wenn sie über den 12. Oktober 2019 spricht, dann bricht die raue Stimme der Französischlehrerin, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. «Ich leide an einem psychoterratischen Syndrom», sagt sie zur Erklärung. Der vom australischen Nachhaltigkeitsforscher Glenn Albrecht geprägte Begriff beschreibt das Leiden des Menschen daran, dass die gesunde Beziehung zu seiner natürlichen Umwelt bedroht ist. Die 52-jährige Rivière wohnt in San Pedro del Pinatar, einem Küstenort im Norden des Mar Menor, einer 170 Quadratkilometer grossen, einzigartigen Salzwasserlagune.

Carole, wie ihre Freund:innen sie nennen, leidet, weil das Mar Menor im Südosten Spaniens leidet. Sie fasst sich wieder: «In der Stadt breitete sich an jenem Vormittag ein fürchterlicher Gestank nach vergammeltem Fisch aus.» Von einer Freundin erfuhr sie hinterher, dass schon am Vorabend Fische und Aale ihre Körper im Todeskampf gebogen hatten und aus dem Wasser gedrängt waren, weil sie dort keine Luft mehr bekommen hatten. Als Rivière dann die ersten Bilder in den Nachrichten sah, konnte sie nicht aufhören zu weinen. Der Geruch von totem Fisch hing noch wochenlang in den Strassen und in ihrer Wohnung. «Ich fühlte mich schuldig. Weil die Wissenschaftler und Umweltschützer seit vielen Jahren voraussagten, dass das passieren würde», sagt Rivière Anfang März im Gespräch mit der WOZ.

Intensivanbau ausser Kontrolle

Einige Tage vor dem verheerenden Fischsterben spülten besonders heftige Niederschläge innerhalb kurzer Zeit hohe Nitratmengen von den Feldern des angrenzenden Campo de Cartagena, eines riesigen Gemüseanbaugebiets, in die Lagune. Es kam zur Eutrophierung, einer Überdüngung des Gewässers aufgrund der starken Anreicherung von Nährstoffen. Das führte zu akutem Sauerstoffmangel. Drei Tonnen tote Fische und Krebstiere säumten die Strände. Im Sommer 2021 wiederholte sich das Umweltdrama. Diesmal war der Auslöser eine Hitzewelle, die Bilanz noch verheerender: fünf Tonnen tote Wasserlebewesen. Schon 2016, als sich das Mar Menor in eine «grüne Suppe» verwandelt hatte, weil sich Algen stark vermehrt hatten, waren Anzeichen für den Stress erkennbar, unter dem das Ökosystem gestanden hatte. Doch erst das Massensterben 2019 hatte die Region sowie ganz Spanien wachgerüttelt.

Ein besonderes Gesetz gibt nun Hoffnung, dass nach Jahrzehnten der Untätigkeit die Zerstörung der Lagune gestoppt werden könnte. Neben den Schwermetalleinträgen aus früheren Bergbauaktivitäten in der Region, die 1991 endgültig eingestellt wurden, und dem Tourismus gilt die Landwirtschaft als Hauptverursacherin des schlechten Zustands des Mar Menor. Im Oktober 2022 verlieh die spanische Regierung der Lagune als erstem Ökosystem der EU den Status einer juristischen Person. «Das bedeutet, die Lagune hat Rechte und kann diese einklagen. Sie ist damit auf Augenhöhe mit denjenigen, die sie verschmutzen, etwa den Landwirten», erklärt der Umweltanwalt Eduardo Salazar den Unterschied zur bisherigen Gesetzgebung. Diese habe versagt, weil die Regionalregierung Gesetze und Massnahmen nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt habe. Mit dem neuen Gesetz kann jede Person im Namen der Lagune vor Gericht klagen. Salazar verspricht sich davon eine deutliche Verbesserung für das Mar Menor.

Der Agrarsektor der Region Murcia ist ein Schwergewicht. Allein im Gebiet des Campo de Cartagena, das direkt an das Mar Menor angrenzt, generiert der Gemüseanbau 37 Prozent des Bruttoinlandprodukts der gesamten Region und sichert Zehntausende Arbeitsplätze. Das war nicht immer so.

Traditionell bauten die Bäuer:in­nen im überwiegend trockenen Gebiet Getreide, Mandeln und Oliven an. Der Trockenfeldbau war zudem in Terrassen angelegt, die Wasser zurückhielten. Ab den achtziger Jahren wurden sie geebnet, nachdem der Bau des Tajo-Segura-Kanals Bewässerungslandwirtschaft ermöglichte. Von da an gelangte überschüssiges Wasser ins Mar Menor. Der nun mögliche Intensivanbau verwandelte das Campo de Cartagena in Europas Gemüsegarten und führte zum wirtschaftlichen Aufstieg der Region. Die Schattenseiten der Entwicklung spiegeln sich im Zustand der Lagune wider, das seither mit immer höheren Nitrateinträgen fertigwerden muss. Ein grosses Problem sind ausserdem die zahlreichen illegalen Brunnen. Das Grundwasser ist salzhaltig und muss behandelt werden, bevor damit bewässert werden kann. Die dabei entstehenden Salzlaugen landen ebenfalls im Mar Menor.

Einst wimmelte es im kristallklaren Wasser nur so von Seepferdchen, die zum Symbol für die Rettung des Mar Menor geworden sind. Als Kind verbrachte Carole Rivière hier ihre Sommerferien. «Es gab so viele Seepferdchen, dass ich es satthatte, mit ihnen zu spielen», erinnert sie sich. Ihr heute zwanzigjähriger Sohn hat beim Schnorcheln nie welche beobachtet. Ihre Artenvielfalt hatte die Lagune dem besonderen Salzgehalt sowie dem Phytobenthos, am Gewässerboden siedelnden Algen, zu verdanken. Das Phytobenthos, ein wichtiger Bioindikator, war laut dem Ökologen Miguel Ángel Esteve Selma dafür verantwortlich, dass die Lagune über Jahrzehnte hinweg mit dem übermässigen Nitrateintrag fertiggeworden ist.

2019 haben klimawandelbedingte Unwetter das Ökosystem überfordert. Die Folge des Nährstoffüberangebots war die rasante Ausbreitung von Algen in den oberen Wasserschichten, die dadurch trüb wurden. Durch den Lichtmangel starben 85 Prozent des Phytobenthos ab. Die Resilienz des Mar Menor ging verloren. «Heute ist die Lagune gegenüber Ereignissen sehr fragil. Selbst bei geringerem Nitrateintrag ist der Schaden nun viel grösser», sagt Julio Más, ehemaliger Direktor des Meeresforschungsinstituts in Murcia.

Aber noch gibt es Hoffnung, dass die Lagune zumindest teilweise wieder ihren früheren Zustand erreicht. «Dafür müssen aber all die Massnahmen und Gesetze, die in den vergangenen Jahren beschlossen wurden, auch endlich umgesetzt werden», so Más. Dass die Lagune nun rechtlich Personenstatus hat, bewertet der Biologe positiv. «Es ist Ausdruck einer Veränderung unserer Sichtweise auf das Leben. Aus historisch-philosophischer Perspektive ist das sehr bedeutend.»

Verfall eines beliebten Tourismusorts

Mit einem Stock reisst Rocío García den grünen Algenteppich auf, der links und rechts eines Kanals das Ufer bedeckt. Eine schwarze, übel riechende Masse kommt zum Vorschein. «Das ist totes Algenmaterial, das von Bakterien zersetzt wird, die Schwefel freisetzen», erklärt García, die sich für die Rettung des Mar Menor einsetzt. Ganze Strände sind von dem Phänomen betroffen. Baden sei an diesen Stellen nicht ratsam, merkt die Chemieingenieurin an. Regelmässig wird die Schicht abgebaggert und die stinkende Masse in Containern abtransportiert. In der angrenzenden Siedlung stehen viele Häuser zum Verkauf. Tourist:innen meiden San Pedro del Pinatar wegen der Algenpest.

Nachdem die Lagune 2019 gekippt ist, protestierten 50 000 Menschen. Landesweit wurde über das Desaster berichtet. Trotzdem sei danach nichts passiert, sagt García. Über Facebook hat sie Carole Rivière und andere Gleichgesinnte kennengelernt, die nicht untätig bleiben wollten. «Wir dokumentieren illegale Wassereinleitungen, nehmen Wasserproben. Ich weiss gar nicht mehr, wie viele Anzeigen ich erstattet habe», sagt García. Sie ist heute skeptisch, dass der neue rechtliche Status dem Mar Menor noch helfen kann. «Jetzt haben wir dieses Gesetz, aber das Mar Menor wird weiter verschmutzt», zeigt sie sich enttäuscht.

Naturrechte als logische Folge

Gemeinsam mit Rivière und vielen anderen gehörte García zu den Triebfedern des Volksbegehrens für die Anerkennung des Personenstatus der Lagune. Die Rechtsphilosophin Teresa Vicente von der Universität Murcia ist die Autorin des Gesetzestextes, dem das spanische Parlament am 21. September 2022 mit grosser Mehrheit zugestimmt hat. Bevor das Gesetz greift, fehlt noch eine Verordnung, die festlegt, wie die gesetzlichen Vertreter:in­nen des Mar Menor ausgewählt werden. «Wir sind auf einem guten Weg», sagt Vicente der WOZ gegenüber zuversichtlich. Zunehmend gewinne eine ökozentrische Konzeption des Rechts Raum. «Bisher stand der Mensch im Mittelpunkt der Rechtsordnung, die nun um die Umwelt erweitert wird», sagt sie. Die Entwicklung des modernen Rechts ging im 20. Jahrhundert mit der Inklusion neuer Subjekte in den Rechtsbereich einher. Frauen, Kinder oder soziale Klassen wurden zu Rechtssubjekten. «Die Fortsetzung dieser Logik bedeutet, die Natur als legales Subjekt anzusehen, was im Rechtsbereich jedoch zu grossen Diskussionen und Herausforderungen führt.»

Federführend bei diesen Entwicklungen ist dabei nicht etwa der Westen, sondern Staaten, in denen indigene Gesellschaften leben. Als erstes Land schrieb Ecuador 2008 die Rechte der Natur in der Verfassung fest, ausgedrückt durch das Konzept der Pachamama (Mutter Erde) des Quechua-Volkes. In Neuseeland fanden nach Jahrhunderten kolonialistischer Unterdrückung die Lehren der Māori 2016 Berücksichtigung, als dem Fluss Whanganui Persönlichkeitsrechte verliehen wurden.

Doch Persönlichkeitsrechte für die Natur sind keine Garantie dafür, dass sie auch respektiert werden. In Ecuador wurden über vierzig Klagen im Namen der Natur erhoben, die Hälfte davon gewonnen. «Leider führte dies nicht immer zu einer messbaren Verbesserung des Wohlbefindens der Natur», schreiben die Juristinnen Laura Burgers und Jessica den Outer in ihrem Buch «Das Meer klagt an!». Ecuador ist nach wie vor von der Rohstoffindustrie abhängig, und die Verfassungsänderung hat die Umweltbedingungen nicht wesentlich verbessert, so das ernüchternde Fazit. Ob die Persönlichkeitsrechte für das Mar Menor die Rettung bedeuten, wird sich schon bald zeigen.