Pfarrhäuser: Im Schloss der Protestanten

Aus erster Hand schildert Oskar Pfenninger in seinem neuen Buch «Vaters Liebe» Kindheit und Jugend als Sohn eines reformierten Pfarrers.

«Als ich klein war, sah ich an Papa hinauf, er war für mich ein Ritter ohne Furcht und Tadel, einer wie aus dem Märchen. Es fehlte ihm nur die Rüstung, das Schwert und das Pferd. Die Fantasie kam mir zu Hilfe. Unser Haus war ein Schloss, Lydia die Schlossherrin und Rittersfrau, ich war ein Page.» Das Schloss ist ein Pfarrhaus in einem Dorf nordwestlich von Winterthur, der Ritter ohne Furcht und Tadel ein zwinglianischer Pfarrer der zürcherischen Landeskirche, Lydia seine viel jüngere dritte Gattin und der Page der heranwachsende Knabe Oskar Pfenninger, Jahrgang 1930, der uns jetzt von seiner Kindheit im Pfarrhaus erzählt. Es sind zur Hauptsache kurze, äusserst bildhafte Hauptsätze, eine kunstvoll knappe Sprache, die ein langes Werden hinter sich hat und ganz einfach daherkommt.

Das Rätsel namens «protestantisches Pfarrhaus» wird sichtbar: Wirklich eine Art Schloss vom Äusseren her, doch gleichzeitig eine sehr karge Wohnstatt, weil – damals in den dreissiger Jahren - nur zwei Öfen für Wärme sorgten. Der Vater, die Söhne Hannes und Oskar aus seiner ersten und zweiten Ehe – ihre Mütter waren früh verstorben – schliefen in einem Zimmer. Oskar wuchs in einer Art Grossfamilie auf, zu der auch Grossvater Hartmann gehörte. Als die neue «Mutter» kam, mussten die zwei Brüder ins Bubenzimmer.

Pfenningers Vater war ein im Kanton Zürich bekannter «liberaler» Pfarrer, der in seinem Studierzimmer nebenbei unentgeltlich als Psychotherapeut freudianischer Richtung praktizierte. Seine Toleranz hörte beim Alkohol auf, und sein Fortbewegungsmittel war auch bei scheusslichstem Regenwetter das Velo. Im Gegensatz zu den meisten seiner Amtsbrüder war er nicht konservativ, sondern sozialdemokratisch gesinnt, und statt des schwarzen Talars, der ihm «zu katholisch» vorkam, trug er in der Kirche stets einen Gehrock. Der Aufklärung war er auch als gläubiger Christ verpflichtet. Die Auferstehung Christi verstand er nur im übertragenen Sinn – wer einmal gestorben ist, wird nicht mehr lebendig. Sein nicht ins damalige Schema passendes Erziehungsprinzip fasst der Sohn zusammen: «Keinerlei Zwang, machen lassen und vor allem Liebe», eine Liebe auf geistig-seelischer Ebene. Ganz am Schluss des Buches heisst es: «Der Zug fuhr an. Ich reichte Papa die Hand. Wir umarmten uns nicht, das war in unserer Familie und überhaupt in dieser Gegend nicht üblich.»

Vor dem Hintergrund des verehrten und zugleich irgendwie unnahbaren Vaters gelingt dem Sohn ein sehr authentisches Selbstporträt. Die ganze Spannung zwischen Liberalität und Puritanismus, zwischen intellektueller Neugier und ländlicher Enge, zwischen Freiheitsdurst und sittlicher Pflicht, wie sie Zwingli verordnet hatte, kommt hier meisterhaft zur Darstellung. Anders als Judith Giovanelli-Blocher, die in ihrer Geschichte der Pfarrfamilie Blocher («Das gefrorene Meer») grosse gedankliche Ausschweifungen macht, konzentriert sich Pfenninger auf seine präzisen, gefühlsfreien Erinnerungsbilder, die er hervorholt, uns unverblümt hinstellt und nicht hinterfragt. Das ist spannend, mitunter irritierend, aber auch wohltuend. Er steht zu seinem Ich und zeigt es, wie ein Gegenüber, keineswegs nur in einem schmeichelhaften Licht.

Eine Szene aus der frühen Kindheit, als vor der dritten Frau Pfarrer die siebzigjährige Haushälterin «Tanti» im Pfarrhaus regierte: «Unser Badezimmer lag im obersten Stock am Ende eines langen Korridors. Man betrat es durch ein fensterloses Vorzimmer … Das Badewasser wurde in einem Boilerofen erhitzt … Ich durfte mit Tanti baden. Wir sassen zusammen in der Wanne, ich auf ihren Schenkeln. Ich spielte mit dem Seifenschaum und mit Tantis Brüsten, die mir wie Bälle vorkamen. Einmal geschah etwas Ungewöhnliches: Von der Wanne aus bemerkte ich, dass die Badezimmertür einen Spalt weit aufging … Mir war augenblicklich klar, dass Hannes im Vorzimmer stand und durch den Spalt lugte … Hannes wollte Tanti nackt aus der Wanne steigen sehen. Ich war unentschieden: Sollte ich schweigen, oder sollte ich Tanti warnen und Hannes um sein Vergnügen bringen? Ich verriet Hannes. Tanti wurde so zornig, wie ich es bei ihr noch nie erlebt hatte … Tanti beschwerte sich bei Papa. Er beruhigte sie. Hannes habe eine nackte Frau sehen wollen, ein verständlicher Wunsch eines Jünglings.» Oskar Pfenninger befleissigt sich einer unverkrampften Ehrlichkeit, die stellenweise fast etwas Exhibitionistisches hat und nicht ins gängige Bild eines Pfarrerssohns passt. Aber das ist es gerade, was Pfarrerskinder auszeichnet: Einerseits geniessen sie Privilegien, anderseits sollten sie sich als genormte Vorzeigewesen geben. Die Widersprüche eines Lebens im weiträumigen, aber oft kalten Pfarrhauskäfig samt grosszügigem Garten führen dazu, dass sie nur selten dem Klischee entsprechen. «Kernkraftwerke des Geistes», wie ein Blocher-Bruder das Phänomen einmal nannte, sind die evangelischen Pfarrhäuser alten Stils zum Glück nicht, wohl aber eine eigenartige Mischung aus Bildungsbürger-Treibhaus und Vitrine einer Musterfamilie. Regelmässig musste der Herr Pfarrer von seiner Gemeinde an der Urne bestätigt werden.

Auch in Christoph Heins grossartigem Roman «Von allem Anfang an» begegnen wir der Wirklichkeit eines protestantischen Pfarrhauses – jedoch lutherischer Prägung und in der DDR. Bei Pfenninger ist die zürcherische und schweizerische Wirklichkeit der frühen dreissiger bis in die frühen fünfziger Jahre die Reibungsfläche. Hautnahe soziale Not im Armenhaus, von den Nazis verfolgte Emigranten, die Landesausstellung und die Kinderlähmungsepidemie, von der Hannes, der ältere Bruder, erfasst wird. Die Angst vor dem Einmarsch der Deutschen, der rote 1.-Mai-Bändel, der Koreakrieg. In diesem Zeitraum mausert sich der schulfaule Junge, der sich gern verwöhnen lässt und zu Beginn des Kriegs für die deutsche Wehrmacht schwärmt, zu einem sehr eigenständigen Zeitgenossen, der sich auf seine Weise die Vorteile des Pfarrhauses zu Eigen macht und nach einer kaufmännischen Lehre Schauspieler wird, sich als Grenadier für die Waffenstillstandskommission zwischen Süd- und Nordkorea meldet und angenommen wird.

Später – das erfahren wir nicht in diesem Buch – wird Pfenninger lange in Japan leben. Das Rückflugbillett Korea-Schweiz liess er verfallen. In Ostasien hat Oskar Pfenninger zu seinem klaren Blick aufs väterliche Pfarrhaus und zu seiner scheinbar schwerelosen, unerhört konzisen Sprache gefunden.

Oskar Pfenninger: Vaters Liebe. Limmat Verlag. Zürich 2004. 148 Seiten. 32 Franken