Tadschikistan: Lavieren am Rande des Schlachtfeldes

Der angekündigte Krieg gegen die Taliban gefährdet das Gleichgewicht in Afghanistans Nachbarstaat Tadschikistan. Afghanische Flüchtlinge sollen draussen bleiben.

Das Leben war schon fast erträglich geworden in Tadschikistan, der abgelegensten und vergessensten der ehemaligen Sowjetrepubliken. Vier Jahre nach Ende des Bürgerkriegs konnte man diesen Sommer in der Hauptstadt Duschanbe endlich wieder nach Einbruch der Dunkelheit einigermassen ohne Angst ausgehen. Die politische Lage hat sich zusehends stabilisiert, auch wenn es in den letzten Monaten zu vereinzelten politischen Morden und Gefechten mit Rebellen gekommen ist. Die tadschikische «Opposition» ist seit dem Friedensabkommen von 1997 – mindestens auf dem Papier – zu dreissig Prozent an der Regierung beteiligt und wird sich hüten, ihre Pfründe wieder abzugeben. Freischärler und lokale Feldkommandanten treten seltener in Erscheinung als auch schon.

Doch jetzt, nach dem 11. September, ist Tadschikistan zu einem der strategisch wichtigsten Länder für den Rachefeldzug gegen die Taliban in Afghanistan geworden. Wie weit kann die Regierung den USA militärische Kooperation anbieten, ohne die eigene Stabilität aufs Spiel zu setzen? Denn die verschiedenen Freischärler und Rebellen könnten einen Krieg der USA im südlichen Nachbarland ausnützen. Zu einer Solidarisierung mit den afghanischen Taliban dürfte es in Tadschikistan hingegen nur begrenzt kommen: Die islamische Opposition unterstützt hauptsächlich die afghanische Nordallianz. Die tadschikische Bevölkerung hat Angst. Nach dem Trauma des fünfjährigen Bürgerkriegs und der anhaltend katastrophalen wirtschaftlichen Lage ist eine neue Krise das Letzte, was die Menschen hier brauchen können.

Tadschikistan ist, wie die ganze Region, im dritten aufeinander folgenden Jahr von einer Dürre betroffen. Viele Menschen, vor allem in den abgelegenen Berggebieten, haben bereits ihr Hab und Gut veräussert, um Nahrungsmittel zu kaufen. Die landwirtschaftliche Produktion ist im Vergleich zum letzten Jahr um 15 Prozent zurückgegangen; verglichen mit 1990, dem letzten Jahr vor der Unabhängigkeit, beträgt sie noch knapp sechzig Prozent. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass die Existenz von rund einer Million Menschen gefährdet ist – vor allem von Kleinbauern und ihren Familien, deren Felder nicht bewässert werden können und die deshalb auf Regenwasser angewiesen sind.

Doch ob und wie die US-Armee von Tadschikistan aus Krieg führen darf, kann die Regierung des Landes nicht selbst bestimmen. Entscheidend sind nicht tadschikische, sondern russische Interessen. An der Grenze zu Afghanistan ist die 17 000 SoldatInnen starke 201. russische Division stationiert. Tadschikistan hatte 1991 als einziger Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion nicht verlangt, dass die russischen Truppen abziehen, sondern an diese gar noch den Schutz seiner Grenzen zu China und Afghanistan delegiert. Der Bürgerkrieg gab Russland weiter Gelegenheit, Einfluss zu nehmen: Moskau spielte bei den Friedensverhandlungen eine Schlüsselrolle und war offiziell neutral, stützte faktisch aber die regierungstreuen Truppen von Präsident Emomali Rachmonow. Humanitäre und wirtschaftliche Hilfe und Investitionen hingegen stammen ausschliesslich aus westeuropäischen Ländern und aus den USA. Die Wirtschaft wird unter Kontrolle von Internationalem Währungsfonds, Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung reformiert. Politische BeobachterInnen sind der Ansicht, dass der russische Einfluss deshalb zurückgeht und mit militärischer und politischer Präsenz allein nicht wettgemacht werden kann.

Greifen die USA die afghanischen Taliban an, könnte es dazu kommen, dass afghanische Flüchtlinge versuchen, die tadschikische Grenze – sie verläuft Gebieten entlang, die teils von den Taliban, teils von der Nordallianz kontrolliert werden – zu überqueren. Doch die russischen Grenztruppen haben Anweisung, niemanden durchzulassen. Immerhin haben die russischen Befehlshaber versprochen, nicht auf Flüchtlinge schiessen zu lassen. Die Lage ist auch so schon prekär genug: Seit einem Jahr sitzen rund 13 000 afghanische Männer, Frauen und Kinder auf zwei Inseln im Grenzfluss Pjandsch fest. Sie waren im letztjährigen Spätsommer vor dem Vorrücken der Taliban geflüchtet, schafften es aber nicht mehr in Nordallianz-kontrolliertes Gebiet.

Die tadschikische Regierung weigert sich seitdem, sie einreisen zu lassen. Versorgt werden die Flüchtlinge – zwei Drittel sind Kinder, die Hälfte davon unter fünf Jahren – von Acted, einer französischen Organisation der Entwicklungszusammenarbeit, und Merlin, einem britischen Werk für medizinische Hilfe. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Uno (UNHCR) leistet keine direkte Hilfe und begründet dies hauptsächlich mit zwei Argumenten: Die Menschen auf den Inseln im Niemandsland seien Vertriebene und keine Flüchtlinge, da sie keine Grenze überschritten haben. Zudem befänden sich Bewaffnete der Nordallianz auf den Inseln; eine der beiden Inseln gleiche einer bewaffneten Festung.

Das UNHCR hat eine Reihe von Bedingungen an die tadschikische Regierung gestellt, die erfüllt sein müssen, bevor es sich in der direkten Hilfe engagiert, so etwa die Zusammenfassung aller Flüchtlinge auf einem kompakten Territorium und die Trennung der Bewaffneten von den anderen. Doch wer soll das ausführen? Eine gute Frage, meint der UNHCR-Verantwortliche in Duschanbe. Es gehe darum, dass jemand die Initiative in diese Richtung ergreife. Ganz anders tönt es bei Acted. «Hier wurden Hilfsbedürftige zu Geiseln von Prinzipien gemacht», sagt Mitarbeiter Frédéric Roussel. In Afghanistan trügen alle Männer Waffen. Sicherlich seien einige lokale Kommandanten mitgeflüchtet; von einem Militärlager zu sprechen, sei jedoch absurd. Seiner Ansicht nach hat sich das UNHCR dem Druck der Taliban gebeugt, die Flüchtlinge nicht zu versorgen, um im Gegenzug im von den Taliban kontrollierten Teil Afghanistans weiter arbeiten zu dürfen. Und so bleiben die 13 000 Flüchtlinge weiterhin im Niemandsland, auf zwei kleinen Inseln, blockiert.