«Vaters Meer» vs. Vaters Erbe

Deniz Utlu hat mit «Vaters Meer» ein viel diskutiertes und dringliches Buch geschrieben. Der Roman handelt von einem jungen Mann namens Yunus, seiner Jugend in Hannover und der Beziehung zu seinem Vater. Infolge zweier Schlaganfälle kann dieser nicht mehr sprechen und nur noch über Augenbewegungen kommunizieren. Der Sohn zieht aus dem Elternhaus aus und studiert. Der Vater wird zehn Jahre lang von der Mutter gepflegt, bis er stirbt. Als Erwachsener versucht nun Yunus, die Kindheitserinnerungen an diesen Vater und dessen Heimatstadt Mardin an der türkisch-syrischen Grenze wiederzufinden. «Vater war keine Person mehr, er war eine Erzählung geworden.» Der Roman ist poetisch, zart und zugleich ehrlich. Er hat mehrere Preise gewonnen. Deniz Utlu ist inzwischen ein bekannter und preisgekrönter Autor.

In der ZDF-Sendung «Das Literarische Quartett» wird Utlus Buch vom Autor und Publizisten Jakob Augstein verrissen. «Ich habe gegähnt», sagt Augstein über das Buch. Es sei «flach, konventionell und ohne Tiefe». Als die anderen Teilnehmerinnen versuchen, die literarische Qualität des Buches zu verteidigen, sagt er: «Ich fand das Buch wahnsinnig langweilig, und ich habe das Gefühl, aus identitätspolitischen Gründen ist man nun dazu aufgefordert, es gut zu finden.» In der Literatur zu sagen, die Sprache sei «konventionell», gleicht dem Urteil, dass die Autor:in das Schreiben nicht beherrsche. Jakob Augstein ist «Spiegel»-Erbe und leiblicher Sohn Martin Walsers, des grossen Schriftstellers der deutschen Nachkriegsliteratur.

Der Literaturbetrieb im deutschsprachigen Raum befindet sich im Wandel. Immer mehr Autor:in­nen mit Migrationsbiografie erzählen ihre Geschichten. Viele, nicht alle, erschaffen dabei schöne und gute Kunst. Ihre Kunst hat vor allem eins: Inhalt – denn sie machen Realitäten sichtbar, die sehr lange unsichtbar waren. Die Hoheit, über Literatur zu urteilen, liegt aber nach wie vor in den Händen der Alteingesessenen.

Die abwertende Reaktion eines etablierten, einflussreichen Mannes des deutschen Literaturbetriebs kann mich eigentlich nicht mehr schockieren, weil ich es gewohnt bin, dass Dinge, die Menschen mit Migrationsgeschichte vollbringen, entweder ganz ignoriert werden oder dann als nicht gut genug abgetan werden. Was mich jedoch immer noch zum Staunen bringt, ist die Hoheit über «Qualität», die einflussreiche Personen des Literaturbetriebes gänzlich für sich beanspruchen. Sie sind der Meinung, dass nur sie dazu in der Lage seien, zu beurteilen, was «gut» sei. Und das stört mich. Es ist problematisch, weil sie Objektivität für sich beanspruchen.

Wenn der Sohn einer der einflussreichsten deutschen Literaten, Erbe und Mitinhaber der «Spiegel»-Gruppe, den Roman eines Sohnes von Schichtarbeiter:innen als «konventionell» und «langweilig» abkanzelt, dann kommt bei mir ein ungutes Gefühl auf. Es ist, als würde Herr Augstein im Namen des Establishments sagen: «Das hier ist nicht euer Platz!»

Unsere Eltern hatten nicht das Privileg, Verlage zu gründen oder Bücher zu schreiben. Sie hatten keine Zeit, zu lesen, sie mussten arbeiten. Sie haben Toiletten geputzt und Maschinen in der Fabrik bedient. Sie haben uns zwar keine Verlage und Tantiemen vererbt, dafür aber totgeschwiegene Geschichten und den Mut, diese Geschichten zu erzählen.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Sie ist Gewerkschafterin, Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Dolma ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.