Genderbias: Weg vom Katzentisch

Nr. 41 –

#MeToo hat auch in der Literaturszene Diskriminierung wieder auf die Tagesordnung gebracht. Ein neues Buch von Nicole Seifert führt vor, wie heute noch argumentiert wird. Und zeigt, was es zu entdecken gilt.

Es war ein viel diskutiertes Thema in den vergangenen Jahren: die Präsenz – oder vielmehr die fehlende Präsenz – von Frauen im Literaturbetrieb. Verschiedene Studien wurden durchgeführt und Initiativen lanciert. Sie zielten darauf ab, mit Zahlen das Missverhältnis zu belegen. Unter dem Hashtag #frauenzählen wurde der Anteil von Büchern von Frauen im Feuilleton gezählt, unter #vorschauzählen der Anteil von Büchern von Frauen in Verlagsprogrammen. Eine Langzeitstudie der Universität Innsbruck untersuchte überregionale Tages- und Wochenzeitungen mit Blick auf einen Genderbias. Die Auswertung ergab einen Anteil von Büchern von Autorinnen zwischen 25 und 30 Prozent. Dieser Wert entsprach dem Anteil der Beiträge von Kritikerinnen.

Die Studie belegte auch einen Unterschied in der Perspektive: Männer besprechen kaum Bücher von Frauen (26 Prozent), Frauen besprechen zu 45 Prozent Bücher von Frauen. Hinzu kamen qualitative Unterschiede. Beiträge über Autorinnen und deren Bücher sind in der Regel kürzer, eher auch Teil von Sammelbesprechungen. Vor allem junge Autorinnen erhalten zwar Raum, werden aber gerne als jung und sexy inszeniert, während bei Männern stärker zwischen Werk und Person unterschieden wird.

Das Vergessen als Normalfall

Ein anderer Fokus findet sich heute zunehmend im Netz. Im Jahr 2019 gewann die promovierte Literaturwissenschaftlerin, Lektorin und Übersetzerin Nicole Seifert den Buchblog Award, der im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben wird. Auf ihrem Literaturblog «Nacht und Tag» publiziert sie kenntnisreiche Texte ausschliesslich über Autorinnen. Nun hat Seifert ein Buch geschrieben, das den Blick auf die Diskurse über Frauen und deren Literatur richtet. Darauf, wie Frauen der Zugang zum grossen Bankett der Literatur verwehrt worden ist, mit welchen Logiken sie und andere gesellschaftspolitische Minderheiten immer noch an den Katzentisch verwiesen werden.

Denkwürdig ist dabei die Aussage von Aleida Assmann. «Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist der Normalfall in Kultur und Gesellschaft», zitiert Seifert die Kulturwissenschaftlerin, die 2018 zusammen mit ihrem Mann mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden ist. «Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht.» Tatsache ist: Über Jahrhunderte hinweg haben Männer beharrlich Männern Ruhm und Ehre zugeschrieben.

Traditionslinien weiblichen Schreibens

Aber es gab sie, die schreibenden Frauen. Seifert führt eine dreibändige Bibliografie aus dem Jahr 1825 an, die 500 «deutsche Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts» verzeichnet, für das Jahr 1898 ein Lexikon mit sogar über 5000 deutschen «Frauen der Feder». Interessant ist ihr Hinweis auf die Rezeption des ersten deutschen Romans einer Frau: Sophie von La Roche publizierte 1771 den Briefroman «Geschichte des Fräuleins von Sternheim». Die Veröffentlichung hatte sie der Unterstützung ihres jüngeren Cousins zu verdanken.

Dieser versah den Text mit einem Vorwort, mit dem er zwei Dinge festgeschrieben habe, so Seifert: «Erstens handele es sich nicht um Literatur im eigentlichen Sinne, nicht um Kunst, die sich mit der von Männern messen könne oder wolle. Und zweitens sei der Text schon wegen seiner Thematik vor allem für Frauen gedacht.» Trotz dieser Abwertung, die für die Rezeption der Bücher von Frauen bis heute charakteristisch ist, hatte der Roman überwältigenden Erfolg – und er inspirierte Goethe zu seinem Briefroman «Die Leiden des jungen Werther». Doch nicht Sophie von La Roches Roman, sondern Letzterer hat es auf die Leselisten der Schulen gebracht.

Weibliches Schreiben, gibt es das? Diesem Thema widmet die Autorin ein eigenes Kapitel. Allerdings handelt sie die Frage rasch ab: «Ästhetisch betrachtet ist das nicht der Fall, darüber herrscht in der Literaturwissenschaft längst Einigkeit.» Anders verhalte es sich jedoch mit dem Inhalt weiblichen Schreibens. Weil die Erfahrungswelt von Frauen wegen des Platzes, der ihnen zugewiesen wird, sich von derjenigen der Männer unterscheide, seien auch andere Themen und andere ästhetische Ausdrucksformen von ihnen zu erwarten. Die Traditionslinien weiblichen Schreibens sind also gesellschaftlich bedingt. Wiederkehrende Stoffe und Motive wie das Haus, das Ein- oder das Ausgesperrtsein oder unterdrückte Sehnsüchte, besonders die weibliche Sexualität, finden sich darunter.

Die Halbwertszeit des Grosskritikers

Auch der weibliche Bildungsroman hat eine spezifische Ausprägung: Bei Frauen gehe es darum, die eigene Identität im Konflikt mit sich selbst zu finden, Männer fänden ihre Identität im Konflikt mit der Aussenwelt, so Seifert. Doch die Differenz ist an Wertung gekoppelt, genauer: Abwertung. Oder mit Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gesprochen: «Verachtung» – ein Wort, das aber selbst Feministinnen in der Debatte um weibliche Kunst scheuen würden. Die Norm ist die Entwicklung von männlichen Protagonisten in einer Männerwelt. Der weibliche Bildungsroman wird als Frauenroman kleingeredet.

So hatte der Grosskritiker Marcel Reich-Ranicki noch erklärt, Frauen könnten gar keine Romane schreiben: «Fragen Sie mich nicht warum! Fragen Sie Gynäkologen!» Seifert zitiert ihn jedoch auch mit seiner wichtigen Aussage, dass ein Streit darüber, wie ein Kanon aussehen solle, sehr nützlich sein könne: «Jeder Kanon ist ein Produkt seiner Epoche und vom persönlichen Geschmack gefärbt.» In zwanzig oder dreissig Jahren sehe der Kanon sicher anders aus. Damit legte Reich-Ranicki gleich selbst seine eigene Halbwertszeit fest.

In der Schweiz sind in den vergangenen Jahren viele neue Autorinnen bekannt geworden. Das hat entscheidend mit dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel zu tun, einem Ort, an dem junge schreibende Frauen ermutigt werden und sich vernetzen. Eine am Zentrum Gender Studies der Universität Basel erstellte Vorstudie bescheinigt dem Literaturbetrieb zunehmendes Bewusstsein für Ungleichverhältnisse. Zugleich sei das Netzwerk des Literaturbetriebs in der Schweiz immer noch durch einflussreiche und vergeschlechtlichte Machtverhältnisse gekennzeichnet, und die Vorstellung des natürlich talentierten und autonomen Autors als Genie sei nach wie vor wirkmächtig.

Auch im kollektiven Gedächtnis ist noch viel zu tun: Das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) umfasst laut eigenen Angaben rund 298 Nachlässe oder Sammlungen von Männern gegenüber 64 von Frauen, also nur gerade siebzehn Prozent. Von der SLA-Publikation «Quarto» gibt es 23 monografische Ausgaben über Männer und 6 über Frauen, davon 3 in den letzten drei Jahren, einschliesslich das für 2022 angekündigte «Quarto» über Grisélidis Réal. Der Trägerverein des SLA hat in den vergangenen beiden Jahren acht Forschungsstipendien ausschliesslich zu Nachlässen von Männern gesprochen.

Nicole Seiferts Buch «Frauen Literatur» zeichnet die Debatten der vergangenen Jahre nach, taucht ein in die Geschichte, bietet Leseanregungen, literarische Schätze und Denkanstösse. Doch die Autorin arbeitet auch heraus, wie tief verwurzelte Muster immer noch die Rezeption prägen. «Über Qualität von Kunst kann man nur urteilen, wenn sie überhaupt betrachtet und von vornherein in die Auswahlprozesse einbezogen wird»: Damit kontert sie das hartnäckig bemühte Argument, einzig Qualität zähle.

Nicole Seifert: Frauen Literatur. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2021. 224 Seiten. 28 Franken