Mo Wa Baile: «No Longer A Victim»
Die Schweiz hat gegen das Diskriminierungsverbot verstossen. So lautet das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg im Fall von Mo Wa Baile. Es ist ein historischer Sieg, der über die Schweiz hinaus auf andere Gerichtsfälle zu Racial Profiling Folgen haben wird.
Am 5. Februar 2015 widersetzte sich Mo Wa Baile einer polizeilichen Personenkontrolle am Hauptbahnhof Zürich. Es war sieben Uhr morgens, und er war auf dem Weg zur Arbeit. Die Polizei wollte ihn für die Weigerung, sich auszuweisen, büssen. Er zog den Gerichtsfall weiter bis nach Strassburg und bekam nun nach neun Jahren Recht.
Mo Wa Baile hätte am Morgen dieses 5. Februar nur seinen Ausweis zeigen müssen und friedlich weitergehen können. Wieso also hat er sich der Kontrolle widersetzt? Er habe es satt, ständig ins Visier der Polizei zu geraten, egal wie er sich verhalte, war 2016 seine Antwort vor dem Bezirksgericht Zürich.
Als Studentin fuhr ich regelmässig von Zürich nach Genf. An einem Abend um zirka 22 Uhr betraten zwei Grenzpolizisten den halbleeren Zugwagen und gingen direkt auf einen Mann zu. Sie forderten ihn auf, seinen Ausweis zu zeigen, und löcherten ihn mit Fragen: «Wo wohnen Sie?», «Wohin gehen Sie?», «Woher kommen Sie?»
Als der Mann die Polizisten fragte, was der Grund für die Kontrolle sei, riss ihm einer der Polizisten das Dokument aus der Hand und verliess den Wagen. Der Mann ging ihnen hinterher und fragte sie immer wieder: «Was ist das Problem?» Im ganzen Wagen war es still und angespannt. Niemand sagte etwas, niemand griff ein. Der Polizist liess die Personalien des Mannes überprüfen und forderte den Mann in einem aggressiven Ton auf, sich zurück auf seinen Platz zu setzen.
Der Polizist kehrte nach einer Weile zurück und händigte dem Mann wortlos den Ausweis aus. Keine Erklärung, keine Entschuldigung, nichts. Die Leute gingen wieder zu ihren Gesprächen über, als wäre nichts passiert.
Ich blickte zum eben kontrollierten Mann und sagte ihm, dass es mir leid tue, was eben gerade passiert sei. Seine Antwort: «Weisst du, wie oft mir das passiert? Ich lebe seit über zwanzig Jahren in der Schweiz. Ich arbeite hier. Meine Mutter sagte mir schon als Kind, wir können machen, was wir wollen, aber unsere Hautfarbe bleibt dieselbe.»
Die Würde von Schwarzen Menschen in unserem Land wird täglich verletzt. Es entmenschlicht nicht nur sie, sondern uns alle, je länger wir diese Ungerechtigkeiten mitansehen. Mo Wa Baile hat sich selbst und uns allen ein Stück Würde zurückgegeben. Er hat uns gezeigt, was es bedeutet, mutig zu sein, und was es bedeutet, nicht aufzugeben. Er hätte gehorchen können und um sieben Uhr dreissig seine Arbeitsstelle erreicht. Aber er hat sich dazu entschieden, aufzustehen und zu kämpfen. Neun Jahre lang. Und er hat gewonnen.
Mo Wa Baile sagt dazu: «Indeed, change is possible. Particularly in ourselves. I’m no longer a victim.» Er ist kein Opfer mehr. Wandel ist möglich! Immer. Überall.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Sie ist Gewerkschafterin, Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Dolma ist 32 Jahre alt und lebt in Zürich.