Polizeiübergriff : «Lass mich atmen!»
Nach einer Polizeikontrolle wurde Wilson A. ins Spital eingeliefert. Deswegen mussten sich nun drei PolizistInnen – neun Jahre nach dem Vorfall – vor Gericht verantworten. Mit einer Verurteilung rechnet niemand.

Am 19. Oktober 2009 ist Wilson A. mit einem Freund auf dem Heimweg vom Zürcher Club Kaufleuten. Sie waren tanzen. Kurz vor ein Uhr nachts fahren die beiden mit dem Neunertram nach Hause. Bei der Haltestelle Werd steigen ein Polizist und eine Polizistin zu. Sie fragen A. und seinen Begleiter nach den Ausweisen. «Warum verlangen Sie unseren Ausweis?», habe er damals gefragt, sagt Wilson. «Weil wir dunkelhäutig sind?» Sie müssten bei der nächsten Station, am Bahnhof Wiedikon, aussteigen, so die Polizei. Dort stösst ein weiterer Polizist hinzu. Die Situation eskaliert.
«Geh zurück nach Afrika!»
Wilson A. ist DJ und lebt in Zürich. Der 44-Jährige nigerianischer Herkunft ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. A. sagt, er habe die PolizistInnen ausdrücklich gebeten, ihn nicht anzufassen, da er erst kürzlich am Herz operiert worden sei. Dennoch sprühen ihm die PolizistInnen laut Anklageschrift Pfefferspray ins Gesicht, werfen ihn zu Boden und traktieren ihn mit Fäusten und Schlagstöcken. «Einer der Polizisten hat mich minutenlang am Hals gepackt», sagt A. Mehrmals habe er gesagt: «Lass mich atmen!» – «Scheissafrikaner, geh zurück nach Afrika!», soll einer der Polizisten laut Anklageschrift gerufen haben, während er A. – bereits in Handschellen – auf den Boden drückt und ihm ein Knie in den Rücken presst.
Am Dienstag und Mittwoch standen nun die drei PolizistInnen, die A. damals kontrolliert hatten, vor dem Zürcher Bezirksgericht – wegen «Amtsmissbrauch» und «Gefährdung des Lebens». Ihnen droht je eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 70 bis 130 Franken.
Übereinstimmend sagen die drei Angeklagten vor Gericht, Pfefferspray, «rohe Körperkraft» und Schlagstöcke eingesetzt zu haben. Aber niemand will A. gewürgt haben. Die beiden Polizisten und die Polizistin wirken gut vorbereitet. Ihre Aussagen decken sich. An bestimmte Dinge können sich alle drei gut erinnern: etwa daran, dass Wilson A. aggressiv gewesen sei, sodass sie die angewandte Gewalt für angebracht hielten. Doch an anderes will sich niemand mehr erinnern können: etwa daran, dass Wilson A. gewürgt worden sei. Oder daran, dass er mehrfach gesagt habe, man solle ihn wegen seiner Herzprobleme nicht anfassen. Wie für alle Beschuldigten in einem Strafprozess gilt für die PolizistInnen die Unschuldsvermutung.
Nach der Eskalation im Oktober 2009 verhafteten die PolizistInnen Wilson A. und brachten ihn auf den Polizeiposten. Dort soll ihm ein Arzt Urin- und Blutproben nehmen. Er misst A.s Puls, veranlasst, dass dieser sofort ins Spital gebracht wird. «Ich kam mit Handschellen in den Notfall», sagt A. «Ich konnte kaum mehr atmen, wegen des Pfeffersprays und des Würgegriffs. Ich konnte nicht mehr gehen.» Die Krankenpflegerinnen hätten ihn mit gefesselten Händen in den Rollstuhl gesetzt. Der Arzt attestiert ihm Quetschungen und Prellungen an Hals, Nacken und Kiefer, einen Bruch an der Wirbelsäule, eine Leistenzerrung, Augenentzündungen aufgrund des Pfeffersprays, das Gewebe um A.s Herzschrittmacher sei stark geschwollen und mit Blutergüssen versehen. Im Polizeirapport wird indes stehen, Wilson A. habe keine Verletzungen. A. erstattet Anzeige gegen die drei BeamtInnen.
Vom Opfer zum Täter
«Einen solchen Fall zu gewinnen, ist eine ‹mission impossible›», sagt Wilson A.s Anwalt Bruno Steiner. Ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn um ein Uhr morgens ein paar Jungs verhaftet werden, weil sie jemanden verprügelt haben, dann trenne die Polizei sie voneinander, damit die sich nicht noch absprechen könnten, sagt Steiner. «Die Polizisten aber hocken nach dem Vorfall zusammen und verfassen Wahrnehmungsberichte. Sie generieren gemeinsam eine Geschichte. Hier wird von Amtes wegen kolludiert. Und diese Aussagen bilden dann das Kernstück im Strafprozess.»
Mit diesen Wahrnehmungsberichten gehe meist eine Strafanzeige einher – etwa wegen «Gewalt und Drohung gegen Beamte» oder «Hinderung einer Amtshandlung», so Steiner. «Damit wird das Opfer zum Täter gemacht.» Gegen seinen Mandanten wurde eine solche Anzeige mittlerweile eingestellt, dennoch sei dieser im Prozess wie ein Beschuldigter behandelt worden.
Rechtsanwalt Thomas Sprenger verteidigt einen der beiden angeklagten Polizisten und plädiert auf Freispruch für seinen Mandanten. Den Vorwurf, die Angeklagten hätten sich abgesprochen, lässt er nicht gelten: «Die Polizei muss diese Darstellungen innerhalb von kürzester Zeit verfassen. Dann sind sie fixiert.» Im Nachhinein lasse sich nichts mehr dazudichten. «Für einen Polizisten gibt es deshalb nur eine Art der Verteidigung: Man muss sagen, wie es war.»
«Gegen die Polizei? Keine Chance»
Wilson A. fragte acht oder neun AnwältInnen an, bevor er Bruno Steiner als Rechtsvertreter engagierte: «Keiner wollte den Fall übernehmen.» – «Sie sagten, sie hätten keine Zeit», ergänzt A.s Frau. «Einer sagte, bei der Polizei habe man sowieso keine Chance.» Sie begleitet ihren Mann zum Interview mit der WOZ. «Vertrauen in die Polizei habe ich keines mehr», sagt sie. «Aber ich habe auch Angst.» Etwa dann, wenn Wilson A. alleine ausser Haus ist und sie ihn auf dem Handy nicht erreichen kann. «Dann schrillen bei mir die Alarmglocken.» Dann klingelt sie auf dem Telefon ihres Mannes Sturm. «Das ist erst seit diesem Vorfall mit der Polizei so. So etwas könnte ja wieder passieren.» – «Dabei bin ich vielleicht nur im Fitness und habe mein Handy gerade nicht bei mir», sagt Wilson A.
Wann ihn die Polizei zum ersten Mal grundlos auf der Strasse angehalten hat, kann er nicht mehr sagen. Einige Vorfälle sind ihm aber besonders in Erinnerung geblieben: 2001 beim Flanieren in der Luzerner Innenstadt, ein Grenzübertritt 2005. Beim Flyerverteilen für seinen DJ-Aufritt 2010, 2012 die Polizeikontrolle direkt vor der Migros.
Es war 2004, als Wilson A. zur Post wollte, die Polizei ihn stattdessen mit auf den Polizeiposten nahm – weil er keinen Ausweis auf sich trug. Als seine Frau ihn abholte, entdeckte sie Blutergüsse rund um seine Handgelenke – dort, wo er die Handschellen getragen hatte. Sie ging zurück zur Wache, fragte die Polizei, wie es dazu kam. «Da war ich noch jung und naiv», sagt sie. «Heute wüssten wir, was zu tun ist. Ein ärztliches Attest machen lassen. Die Verletzungen vielleicht fotografieren.»
Opium des Volkes
Für die Kontrolle 2009 liegt wegen des Spitalaufenthalts ein ärztliches Attest vor. Trotzdem beantragte die zuständige Staatsanwältin zweimal, das Verfahren gegen die drei PolizistInnen einzustellen – aus Mangel an Beweisen. Zweimal zog A. mit seinem Anwalt diese Entscheide bis vor Bundesgericht – mit Erfolg. Dann aber nahm die Staatsanwältin statt der «Gefährdung des Lebens» nur «einfache Körperverletzung» in die Anklageschrift auf – ein Straftatbestand, der inzwischen längst verjährt wäre. Im November 2016 gab das Zürcher Bezirksgericht A. recht: Wegen seines Herzschrittmachers habe bei der Kontrolle 2009 durchaus eine Gefährdung des Lebens bestanden. Die Staatsanwaltschaft musste die Anklageschrift abermals überarbeiten. Nun, eineinhalb Jahre später, fast neun Jahre nach dem Vorfall, fordert die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer vor Gericht, die PolizistInnen seien freizusprechen.
«Dass vor dem Gesetz alle gleich sind, ist in diesen Fällen doch eher Opium fürs Volk», sagt Wilson A.s Anwalt Steiner. Das System werde rasch korrupt, wenn es gegen die eigenen Leute gehe. Steiner beantragte für seinen Mandanten mehrfach ein medizinisches Gutachten. Aber die Staatsanwaltschaft lehnte es ab, einen Experten die Verletzungen an A.s Nacken und Hals auf den Würgevorgang hin prüfen zu lassen. «Und ohne Gutachten mit aller Wahrscheinlichkeit keine Verurteilung», schlussfolgert Steiner.
«Für wie blöd verkauft man uns eigentlich? Wenn Strafverfolger gegen Strafverfolger ein Strafverfahren führen, dann funktioniert das todsicher nicht», so der Verteidiger. Sicherlich nicht ohne unabhängige Strafverfolgung, die nicht mit der Zürcher Justiz verbandelt sei. «Wilson A.s Fall ist ein klassischer Fall. Daran können wir aufzeigen, wie ein System dafür sorgt, dass diese Fälle nicht verfolgt werden. Es geht darum, zu zeigen, wie dieser Apparat funktioniert.»
Wilson A. sagt, er habe die Hoffnung auf Gerechtigkeit verloren. Dennoch will er den Fall weiterziehen, wenn nötig bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. «Ich werde nicht aufgeben.» Mitte März war er Zuschauer bei einem Gerichtsprozess zu Racial Profiling in Basel und hielt im Anschluss eine Rede – dabei zählte er auf, wie viele Menschen in der Schweiz im letzten halben Jahr in Polizeigewahrsam gestorben sind: zwei im Tessin, drei in der Welschschweiz. Alle fünf waren Menschen mit dunkler Hautfarbe. «Ich hatte Glück. Ich hätte tot sein können», sagt Wilson A. «Wer weiss schon, ob ich ein nächstes Mal wieder solches Glück habe? Und: Wer wird der Nächste sein?»