Das Märchen vom Märchen

Als Fussballfan ist man mit wenig zufrieden: endlich wieder mal ein grosses Turnier, das nicht von einem autoritären Regime veranstaltet wird. So kann nach der nun abgeschlossenen Gruppenphase der Europameisterschaft in Deutschland auch über Fussball diskutiert werden, über perfekte taktische Einstellungen, den Einfluss des neuen Schweizer Kotrainers Giorgio Contini. Oder darüber, ob diese EM noch zu einem echten neuen «Sommermärchen» heranwachsen könnte.

Der Verweis geht zurück auf die Weltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 2006, als der Gastgeber die Fanmeilen bis ins Halbfinale verzückte. «2006 war einzigartig», sagte SRF-Kommentator Sascha Ruefer jüngst in einem Interview mit CH Media, und seine Fragensteller schwelgten: «2006 hat Deutschland die Leichtigkeit des Patriotismus entdeckt.»

Der Austausch steht symptomatisch für die verklärende kollektive Erinnerung an ein Turnier, das allem Anschein nach mit Schmiergeldzahlungen ins Land geholt worden war. Ein Turnier, vor dem Betroffenenverbände vor «No-Go-Areas» für Schwarze Fussballfans gewarnt hatten. Und an dessen Ende der Verein «Gesicht zeigen!» bilanzierte, dass es in mindestens zehn Fällen rassistischer Gewalt «nur mit viel Glück» keine Todesopfer gegeben habe.

Auch anlässlich des diesjährigen Turniers kam es bereits zu zahlreichen Vorkfällen. Der Autor Ruben Gerczikow, der sich mit Rechtsextremismus und Fussball beschäftigt, dokumentierte auf X allein an den ersten beiden Spieltagen über zwanzig Beispiele rund um die EM: türkische Fans, die den rechtsextremen Wolfsgruss zeigten; ungarische Ultras, die mit einem Anti-Antifa-Banner posierten; österreichische Fans, die im Stadion eine Fahne mit der Aufschrift «Defend Europe» präsentierten, einem Slogan der Identitären. «20 Minuten» zeigte ein Video von einem Public Viewing im thurgauischen Arbon, auf dem eine Gruppe junger Männer rassistische Parolen skandierte und einer den Hitlergruss zeigte.

Man muss es sich deswegen nicht nehmen lassen, die Spiele dieser Europameisterschaft zu geniessen. Aber aufs Märchen vom Sommermärchen können wir getrost verzichten.