Küstenwache kam zu spät – hätte gedacht, sie kommt gar nicht
Was einem bei gewissen Eilmeldungen durch den Kopf schiesst, verrät manchmal mehr, als man über sich selbst wissen wollte. Da wäre zum Beispiel der Klassiker, jemand begeht eine Gewalttat, und Menschen mit Migrationshintergrund ertappen sich beim stillen Gebet: Bitte sei weiss. Nach dem Messerangriff im deutschen Solingen etwa stand der Schriftsteller Behzad Karim Khani auf Instagram offen zu diesem Gedanken.
Er hat recht, wenn er sagt, dass sich die eigene «Verrohung» daran zeigt. Zugleich erwische ich mich bei der Frage, warum wieder mal wir es sind, die sich selbst bremsen und reflektieren müssen, während Konservative hemmungslos vor sich hin verrohen und nicht im Traum daran denken, sich dafür zu entschuldigen. Auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, mag nobel sein und klug und ehrenhaft, in erster Linie ist es verdammt nervig.
Während ich also, wie wir alle, permanent meine eigene Dezivilisierung beobachte, stosse ich manchmal auf Überraschungen. Zuletzt gestern Nachmittag. Auf der Website des britischen «Guardian» erschien eine neue Meldung. Im «Channel», wie die Brit:innen den Ärmelkanal nennen, sei ein Boot gekentert, zwölf Menschen seien vermisst, ein paar Tote. Und: Küstenwache alarmiert, Hubschrauber am Himmel, Tauchboote, Rettungskräfte. Alarm. Notfall. Grosseinsatz.
Mein erster Gedanke war nicht: Hoffentlich werden die Vermissten gerettet. Mein erster Gedanke war auch nicht: Wie schrecklich, dass Menschen gestorben sind. Oder: Bitte wenigstens keine Kinder. Mein erster Gedanke war: Rettungseinsatz? Also können es keine Geflüchteten sein.
Ist das Verrohung? Oder einfach Erfahrung? Unzählige sogenannte Flüchtlingsboote sind im Ärmelkanal, vor der zentralen Mittelmeerküste und in der Ägäis schon untergegangen. Die Nachrichten erreichen uns, wenn es zu spät ist, das Sterben wird besprochen wie eine Naturkatastrophe. Es ist die Randnotiz am Rande der Randnotiz. Dass Frankreich für Flüchtende die Küstenwache losschickt, erschien mir in diesem Moment dermassen unwahrscheinlich, dass ich schloss: Es müssen wohl Weisse an Bord sein.
Waren sie nicht. Es waren zwölf Migrant:innen, überwiegend aus Eritrea, darunter sechs Kinder und eine schwangere Frau. Die Innenministerien in Frankreich und England streiten jetzt über die politische Verantwortung und darüber, wer die Kosten trägt. Über sichere Fluchtwege sprechen sie nicht. Da, immerhin, ist alles wie gewohnt.
Özge İnan wurde durch ihre politischen Twitter-Beiträge bekannt. Ihren Account hat sie zwar inzwischen gelöscht, aber noch immer kommentiert sie pointiert das Zeitgeschehen. An dieser Stelle lesen Sie immer freitags ihre Kolumne, in der sie auf die laufende Woche zurückblickt.