Schiffskatastrophe im Mittelmeer: Ein schrecklicher Verdacht
Bis zu 600 Flüchtende verlieren vor Griechenland ihr Leben. Immer mehr Indizien legen nahe: Die Küstenwache ist für das Unglück mitverantwortlich.
36 Grad Nord, 21 Grad Ost: So lauten die Koordinaten, die die Organisation Alarmphone am Dienstagnachmittag, 13. Juni, der griechischen Küstenwache, Frontex und dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR mitteilte. Alarmphone ist eine unabhängige Anlaufstelle für Geflüchtete, die in Seenot geraten sind. Sie informiert nach Notrufen die zuständigen Behörden und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer.
36 Grad Nord, 21 Grad Ost: Die Koordinaten stehen auch als Chiffre für eine der grössten Schiffskatastrophen, die sich in den letzten Jahrzehnten an der EU-Aussengrenze ereignet haben. 700 Menschen sollen gemäss Überlebenden an Bord eines Fischkutters gewesen sein, der in der griechischen Seenotrettungszone kenterte. 104 Personen konnten gerettet werden, 78 wurden bisher tot geborgen. Hunderte, darunter viele Frauen und Kinder, werden vermisst. Viele kamen aus Pakistan und Syrien. Nach allem, was bislang über das Unglück bekannt wurde, ist es eine Folge von unterlassener staatlicher Hilfeleistung. Im Raum steht zudem der schreckliche Verdacht, die griechische Küstenwache habe es gar herbeigeführt.
Einfach zugeschaut
Gemäss dem zeitlichen Ablauf, den die Küstenwache nach der Katastrophe veröffentlicht hat, erfuhr sie erstmals am Dienstagmorgen vom Schiff in griechischen Gewässern. Sie schickte in Mytilene einen Helikopter los, der den Kutter am Nachmittag ausfindig machte. Er sei mit «gleichmässigem Kurs und gleichmässiger Geschwindigkeit» unterwegs gewesen, heisst es im Protokoll. Luftaufnahmen zeigen ein völlig überfülltes Schiff. Dicht gedrängt sitzen die Menschen auf dem Oberdeck in der prallen Sonne.
Die Küstenwache informiert zwar umliegende Schiffe, den Kutter zu beobachten und mit Wasser zu versorgen. Doch es wurde keine Rettungsaktion gestartet. Der Grund, der im Protokoll genannt wird: Das Flüchtlingsschiff habe wiederholt Hilfe abgelehnt. «Wir wollen nichts weiter als nach Italien fahren», habe der Benutzer des Satellitentelefons mitgeteilt. Gegen 22 Uhr erreichte ein Schiff der Küstenwache den Kutter, beobachtete ihn aber bloss. Nach Mitternacht sei dessen Motor ausgefallen, der Kutter gekentert und gesunken. «Eine gross angelegte Such- und Rettungsaktion wurde eingeleitet», endet das Protokoll.
Eine Dokumentation der BBC hat mittlerweile nachgewiesen, dass die Darstellung der griechischen Küstenwache falsch ist: Anhand von Trackingdaten der Schiffe in der Umgebung konnten die Journalist:innen belegen, dass sich der Kutter stets an Ort und Stelle befand und nicht etwa auf «gleichmässigem Kurs» unterwegs war. Alarmphone widerspricht auch der Behauptung, das Schiff habe Hilfe abgelehnt. In den Anrufen, die die Organisation empfangen habe, sei im Gegenteil Hilfe angefordert worden: Das Schiff befände sich in grosser Not, die Passagiere könnten die Nacht nicht überleben.
Ursprünglich war der Kutter in Kambut in Ostlibyen in See gestochen. Die Geretteten berichten von unmenschlichen Zuständen. Nach vier Tagen hätten sie kein Wasser mehr zu trinken gehabt. Gegenüber der griechischen Küstenwache erheben Überlebende unabhängig voneinander einen schwerwiegenden Vorwurf: Sie hätte das Schiff mit einem Tau in italienische Gewässer ziehen wollen, worauf es gekentert sei. «Ich weiss nicht, ob es Absicht war oder nicht. Auf jeden Fall sind sie verantwortlich, dass das Schiff gesunken ist», erzählt ein Überlebender in einem auf Youtube veröffentlichten Statement.
Die Küstenwache bestreitet die Vorwürfe. Allerdings wäre ein solches Vorgehen nichts Neues: Den griechischen Behörden konnten zahlreiche illegale Pushbacks über die Grenze ohne eine Prüfung des Rechts auf Asyl nachgewiesen werden. Erst Ende Mai wurden gemäss Alarmphone Geflüchtete von der griechischen Küstenwache in türkischen Gewässern auf Rettungsinseln ausgesetzt.
Europa in der Pflicht
In Griechenland, wo am Sonntag der zweite Wahlgang der Parlamentswahl stattfindet, sorgt die Frage nach der Verantwortlichkeit für heftige Debatten: Alexis Tsipras, Vorsitzender der Linkspartei Syriza, kritisierte an einem Streitgespräch, dass die Küstenwache keine Rettungsaktion eingeleitet habe. Evangelos Tournas, der interimistische Minister für Bürgerschutz, stellte sich auf den Standpunkt, eine Hilfeleistung sei nicht möglich, wenn der Kapitän diese ablehne. Dem widersprechen zahlreiche Rechtsexpert:innen: Ein Schiff, das erkennbar in Not sei, müsse zwingend gerettet werden.
Klare Worte findet Alarmphone: «Die europäischen Verantwortlichen haben bei der Rettung versagt. Der Wunsch, die Ankunft von Asylsuchenden zu verhindern, war stärker als das Bedürfnis, Hunderte von Menschen zu retten.» Europaweit fanden in zahlreichen Städten, darunter Zürich und Bern, Kundgebungen angesichts der Tragödie statt. In einem Aufruf fordern 180 Menschenrechtsorganisationen die unabhängige Untersuchung der Katastrophe und die sofortige Freilassung der Geretteten aus Asyllagern. Rettungsaktionen dürften in Zukunft nicht mehr verzögert werden.
Zudem müssten sichere Fluchtwege nach Europa geschaffen werden. Dass das Schiff aus Libyen überhaupt die Koordinaten 36 Grad Nord und 21 Grad Ost passieren musste, hat auch mit der Aufrüstung der europäischen Aussengrenze zu tun. Es gäbe direktere Wege von Libyen nach Italien oder Griechenland.