Neokoloniale Diskussionen um Afghanistan-Ausschaffungen

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Kurz nachdem die Nato unter Führung der USA chaotisch aus Afghanistan abgezogen war und die Taliban im August 2021 Kabul erobert hatten, bezeichnete die «New York Times» den zwanzigjährigen Militäreinsatz am Hindukusch erstmals als «neoimperialistischen Krieg». Besser spät als nie. Was damit gemeint ist, verdeutlichen die internen Diskussionen beim Staatssekretariat für Migration (SEM).

Laut einem Bericht der «NZZ am Sonntag» haben hochrangige SEM-Mitarbeiter:innen die Idee geprüft, Ausschaffungen nach «ethnischen Kriterien» durchzuführen. Konkret: ob Geflüchtete der paschtunischen Ethnie, die seit Jahrhunderten den afghanischen Nationalstaat dominiert und auch innerhalb der militant-islamistischen Taliban die klare Mehrheit stellt, weggewiesen werden könnten. Für andere Gruppen wie die Tadschik:innen oder die mehrheitlich schiitischen Hasara hätten gemäss dieser Idee wiederum andere Kriterien zu gelten.

Wer an derartigen Narrativen festhält, reproduziert Bilder aus dem Zeitalter des Kolonialismus. Im 19. und 20. Jahrhundert versuchten die Briten ganze drei Mal, Afghanistan zu erobern. Anthropologische Kategorisierungen im Auftrag des Empires zur Spaltung der indigenen Bevölkerung gehörten zur Strategie. «Teile und herrsche» war die damalige Devise, ebenso wie auch Jahrzehnte später unter der sowjetischen Besatzung und nach dem Nato-Einmarsch wieder.

Es stimmt, dass Paschtunen stets – so wie jetzt auch unter den Taliban – Macht innehatten. Doch wer die ganze Volksgruppe deshalb in eine Schublade steckt und dämonisiert, hat die Realitäten vor Ort nicht verstanden. Auch viele Warlords, die in den letzten Jahren die Taliban bekämpften, waren Paschtunen. Selbiges gilt für viele Menschenrechtsaktivistinnen, Journalisten, Richterinnen und Politiker, die sich den Extremisten in den Weg stellten. Laut «NZZ am Sonntag» hat das SEM die Idee wieder verworfen. Man hätte die Diskussion gar nicht erst beginnen sollen.