Standpunkt: Störfaktor Taliban

Nr. 37 –

Die verheerenden Erdbeben in Afghanistan stellen eine weitere Krise dar, die das Land nicht allein stemmen kann. Der Westen müsse nun endlich helfen.

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eine Rettungskraft sucht Anfang September in der Provinz Kunar nach Verschütteten
Rettungskräfte suchen Anfang September in der Provinz Kunar nach Verschütteten. Foto: Reuters

«Viele Menschen sind immer noch verschüttet. Ganze Familien wurden durch diese Naturkatastrophe ausgelöscht», erzählt Scher Agha, Ende dreissig, am Telefon. Kurz zuvor bebte die Erde ein weiteres Mal in seiner Heimatregion, der nordostafghanischen Provinz Kunar. Am vorvergangenen Wochenende ereignete sich dort ein Erdbeben, bei dem laut aktuellem Kenntnisstand weit mehr als 2000 Menschen ums Leben kamen. Die WHO berichtet von mindestens 2205 bestätigten Opfern, Menschen aus der Region sprechen von über 2500 Toten. Hinzu kommen fast 4000 Verletzte, und rund 6800 Häuser wurden zerstört.

Betroffen ist nicht nur Kunar, versehrt wurden auch die umliegenden Provinzen Nangarhar, Laghman und Nuristan. Wer die gebirgige und von zahlreichen engen Tälern unterteilte Region kennt, weiss, wie schwer sie zugänglich ist. Intakte Strassen, die in die jeweiligen Dörfer führen, existieren praktisch nicht. In den letzten Jahren der Nato-Besetzung in Afghanistan, die von 2001 bis 2021 dauerte, wurde hier in erster Linie gekämpft, gebaut haben die US-Besatzungstruppen lediglich Militäranlagen, die heute verlassen sind. Spitäler gibt es nur in den Provinzhauptstädten Asadabad sowie im deutlich grösseren Dschalalabad. Doch in beiden Kliniken fehlt es an vielem. Bereits vor rund fünfzehn Jahren zogen die meisten US-Truppen aus der Region ab, die afghanischen Truppen blieben. Jene US-Amerikaner, die es zuvor nach Kunar verschlagen hatte, sahen die Region als eine Art Wilden Westen, in dem sie sich austoben konnten.

Zugleich ist dieser Fleck Afghanistans auch von viel Militanz und Extremismus geprägt. Hier waren nicht nur die militant-islamistischen Taliban, die heute ganz Afghanistan regieren, stark präsent, sondern eine Zeit lang auch der deutlich extremistischere Islamische Staat, den die Taliban wiederum bekämpften. Die Bevölkerung der Region gilt als streng konservativ, doch sie ist auch divers. Vom Erdbeben betroffen sind hauptsächlich die Paschtun:innen des Safi-Stamms, der hier ansässig ist, sowie die Minderheit der Paschai. Beide waren in den letzten Jahren nicht nur viel Krieg und Zerstörung ausgesetzt, sondern auch meist von jeglicher Entwicklungshilfe, die ausgiebig nach Kabul floss, ausgeschlossen.

Das Scheitern der Nato

Die Folgen davon werden nun besonders deutlich. Seit Tagen suchen die Menschen in der Region ohne jegliches Gerät, meist mit blossen Händen, nach verschütteten Freund:innen und Verwandten. «Die Lage ist so schlimm, dass ich kaum Worte finde, um sie zu beschreiben», erzählte ein Mann aus Kunar in einem Video, das in sozialen Netzwerken verbreitet wurde. «Wir haben unsere Mutter begraben», waren die Worte von zwei Jungen, deren Dorf vom Erdbeben zerstört wurde. Sie überlebten nur, weil sie nachts auf dem Dach ihrer Lehmhütte geschlafen hatten.

Die Unzugänglichkeit der Region erschwert die Arbeit von humanitären Helfer:innen sowie der Taliban-Regierung. Letztere hat die Welt offiziell um Hilfe gebeten. Doch aufgrund ihrer Repressalien, die sich in erster Linie gegen Mädchen und Frauen richten, wird sie selbst als grosser Störfaktor gesehen. NGOs sind weiterhin von Arbeitsverboten, die für Afghaninnen gelten, betroffen. Helfer, die vor Ort präsent sind, berichten auch über die hohen Opferzahlen unter Mädchen und Frauen, die sich meist in den Häusern befunden hätten. Es heisst auch, dass deutlich mehr Männer geborgen und gerettet werden konnten.

Dass das fürchterliche Realitäten sind, leugnet niemand. Die jüngste Katastrophe macht aber auch erneut deutlich, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan nicht alleinlassen darf. Vielmehr ist pragmatisches Handeln nötig. Zwanzig Jahre westliche Militärintervention konnten weder die Taliban oder andere Extremisten auslöschen, noch die extrem orthodoxen und patriarchalen Strukturen, die in der vom Erdbeben betroffenen Region bestehen, verändern.

Die Schweiz, Deutschland sowie andere EU-Staaten pflegen die Zusammenarbeit mit Diktaturen wie Saudi-Arabien, wo mit schockierender Regelmässigkeit Dissident:innen, kritische Kleriker oder Menschenrechtsaktivist:innen hingerichtet werden; genauso wie mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo Regimekritiker:innen gejagt und verhaftet werden und im Anschluss verschwinden, oder auch mit Katar, das jahrelang die Taliban hofierte und wo trotz allem eine Fussballweltmeisterschaft stattfand. Doch mit den Taliban, deren Weltanschauung weder relativiert noch romantisiert werden sollte, will man in Europa nur sprechen, wenn es um die Abschiebung von Geflüchteten geht, wie es etwa aktuell in Deutschland der Fall ist. Diese Haltung ist heuchlerisch und menschenfeindlich. So lässt sich auch die Afghanistanpolitik der westlichen Staatengemeinschaft im Allgemeinen beschreiben.

Noch während des Nato-Truppenabzugs im August 2021 wurde das Scheitern des Einsatzes deutlich, als die Taliban zeitgleich Kabul einnahmen und ihre Flagge hissten. Doch die chaotischen Szenen am Kabuler Flughafen, der afghanische «Saigon-Moment» der USA und ihrer Verbündeten, lösten kein politisches Umdenken oder eine notwendige Selbstkritik aus. Sie führten vielmehr dazu, dass sich die westlichen Verantwortlichen in Selbstmitleid suhlten. «Wir haben unser Bestes gegeben, aber die Afghanen wollten uns einfach nicht», so die Haltung.

Seitdem wird die afghanische Bevölkerung im Kollektiv bestraft. Die afghanischen Devisenreserven in der Höhe von rund zehn Milliarden US-Dollar wurden eingefroren. Das Taliban-Regime, dessen Rückkehr der Westen selbst ermöglicht hat, wurde sanktioniert. Jene, die darunter in erster Linie leiden, sind nicht die meist gut betuchten Extremistenführer, sondern die einfachen Afghan:innen.

Bulldozer statt Bomben

Die jüngste Katastrophe ist nur eine von vielen. In den letzten Wochen und Monaten wurden mehrere Millionen afghanische Geflüchtete aus den Nachbarländern Iran und Pakistan abgeschoben. Auch die Auswirkungen des Klimawandels verdeutlichen sich am Hindukusch seit Jahren, obwohl das Land selbst kaum CO₂ ausstösst. Auf extreme Hitze folgen meist Trockenheit und Hochwasser, wie es in den letzten Jahren immer wieder der Fall war. Nun heisst es sogar, dass Kabul als erster moderner Stadt überhaupt in den nächsten Jahren das Grundwasser ausgehen könnte – eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses.

Egal wer heute in Afghanistan regiert: Niemand könnte mit all diesen Problemen fertigwerden. Wer Afghanistan hilft, tut das in erster Linie nicht zugunsten der Taliban, sondern rettet Menschenleben. Dies und nichts anderes sollte die Priorität der westlichen Staatengemeinschaft sein. Sie würde mit einem solchen Schritt nicht nur zeigen, dass sie Afghanistan nicht vergessen hat, sondern auch, dass man aus den vergangenen Jahren des Krieges gelernt hat und es nun besser machen will. Über Kunar und Nangarhar wurden einst viele Bomben abgeworfen. Heute könnte man dort medizinisches Personal und Bulldozer bereitstellen.

Emran Feroz schreibt regelmässig für die WOZ aus und über Afghanistan, diesmal mit Wut im Bauch aus Deutschland. Der österreichisch-afghanische Journalist ist Autor mehrerer Bücher zum Thema, zuletzt erschien «Vom Westen nichts Neues» (Verlag C. H. Beck, 2024).