Ursprung des Skifahrens: Der revolutionäre Polizist
Die Angst, vom Schnee verschluckt zu werden, trieb die Menschen dazu, sich Skier anzuschnallen. Dank Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen wurde Skifahren zu einer Sportart.
«Vielleicht sind wirklich nur Schafe ausgeprägtere Herdentiere als wir Menschen», schrieb der norwegische Journalist Stein Erik Kirkebøen letztes Jahr in einem Aufsatz über die wenigen Skiläufer, denen es gelungen ist, die nordischen Sportarten zu verändern. Anders sei es ja wohl kaum zu erklären, dass «es hunderte Jahre gedauert hat, bis mal jemand auf die Idee kam, zum Beispiel bestimmte Techniken zu verändern».
Wie den Langlaufschritt. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war selbst den meisten Laien klar, mit welchem Bewegungsablauf nordische SportlerInnen am schnellsten ins Ziel gelangen würden: Sie mussten sich auf Skiern einfach nur so bewegen, als würden sie rennen. Schliesslich hatten das auf alten Fotos und Filmaufnahmen bereits Legenden wie Thorleif Haug und Sixten Jernberg exakt so vorgemacht. Ganz zu schweigen von den historischen Felsmalereien, die eindeutig Skilangläufer in der bekannten Pose zeigen.
Die erste bekannte Abbildung eines Ski laufenden Menschen entstand vor grob fünftausend Jahren und ist damit ungefähr so alt wie die ägyptischen Pyramiden. Das in einen Felsen der nordnorwegischen Insel Rødøy eingehämmerte und von Torfstechern 1929 zufällig entdeckte Strichmännchen trägt zwar seltsamerweise Hasenohren, aber auch eindeutig Bretter unter den Füssen. Wie diese frühzeitlichen Skier ausgesehen haben, ist auch klar: In einem Moorgebiet nahe dem schwedischen Horting wurde ein recht gut erhaltenes Exemplar gefunden, dessen Alter von WissenschaftlerInnen mittels einer modernen Pollenanalyse auf 4500 Jahre geschätzt wird. 110 Zentimeter lang, zehn Zentimeter breit und einen Zentimeter dick ähnelt es bis auf die fehlende Taillierung frappant dem, was sich HobbyläuferInnen heute so unter die Füsse schnallen. Dabei gehen ExpertInnen davon aus, dass der Ski aus einer Art Schneeschuh oder Kufe entwickelt wurde, die es den damaligen Jägern möglich machte, Sümpfe und gefrorenes Gelände sicherer zu durchqueren.
Aus purer Freude am Skilaufen schnallten sich jedoch nur die wenigsten Menschen Bretter an. Geschichtsschreiber erwähnten immer wieder, dass die rasche Fortbewegung auf verschneitem Terrain ein Faktor der skandinavischen Kriegführung sei. Im Jahr 550 beschreibt der griechische Historiker Prokopios in seinem Werk «De bello Gothico» bereits entschlossen dahingleitende FinnInnen oder «skrithifinns».
Skilaufen aus purem Spass war damals nichts für die Normalsterblichen. Im Jahr 1222 nach Christus wurde in einer vom isländischen Barden Snorre Sturlason erstmals aufgeschriebenen Sage der erste Fall von wintersportbedingter Trennung erwähnt: Die Göttin Skadi verliess demnach ihren Ehemann, den Gott Njord, in einer frühzeitlichen Variante des Zigarettenholens mit der Ausrede, sie gehe nur mal kurz Ski laufen.
Der 1490 in Linköping geborene Geistliche und Historiker Olaus Magnus schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts in lateinischer Sprache ein Buch über die Völker des Nordens, die dem gebildeten Publikum bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt waren. Sein Werk «Historia de gentibus septentrionalibus» – zu Deutsch: «Die Geschichte der Völker unter dem Sternbild des Grossen Wagens» – sollte lange Zeit als Standard gelten und wurde noch im 16. und 17. Jahrhundert etwa ins Deutsche übersetzt und immer wieder neu aufgelegt. In seinen Schilderungen, die unter anderem auf einer in den Jahren 1518/19 unternommenen Nordlandreise beruhen, erwähnte Magnus nicht nur grauenvolle Meeresungeheuer und den Mahlstrom vor den Lofoten, sondern auch von ihm beobachtete Wettbewerbe im Skilaufen. Die Illustrationen waren grösstenteils von ihm selbst gefertigt worden. Eine Radierung zeigt ein älteres Paar, das mit Pfeil und Bogen ausgerüstet ist und Schnabelschuh-ähnliche Skier an den Füssen trägt.
Magnus’ Erzählungen wurden wahrscheinlich auch in der Schweiz gelesen, denn der eidgenössische Theologe und Historiker Josias Simler beschrieb in seinem 1574 in Zürich publizierten Pionierwerk der wissenschaftlichen Alpenkunde «De Alpibus commentarius», dass schmale Bretter, mit Seilen an den Füssen befestigt, das gefürchtete Verschlucktwerden vom Tiefschnee verhindern könnten. Zu diesem Zeitpunkt verteilten norwegische Postboten übrigens in bestimmten Regionen seit 44 Jahren ihre Brieflieferungen auf Skiern, und vor den Steuereintreibern Königs Håkon des Guten schützte es schon längst nicht mehr, in abgelegenen, tief verschneiten Gegenden zu wohnen.
Bis aus der meist notgedrungenen Fortbewegung per Ski eine richtige Sportart wurde, sollte es jedoch noch sehr lange dauern. Massgeblich trug dazu der berühmte Polarforscher Fridtjof Nansen bei, der 1922 für seine Arbeit als Hochkommissar des Völkerbundes den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Der bekennende Humanist hatte mit dem so genannten Nansen-Pass erstmals dafür gesorgt, dass staatenlose Flüchtlinge mit Identitätspapieren ausgestattet werden konnten – damals waren nach der russischen Revolution und dem Massaker an den ArmenierInnen hunderttausende Menschen heimatlos geworden.
Dem Wissenschaftler und Neurologen an der Universität von Oslo war zuvor im Jahr 1888 in nur sechs Wochen die Durchquerung des damals noch völlig unbekannten Grönlands gelungen. Massgeblich für den Erfolg der riskanten Expedition sei vor allem gewesen, dass Skier benutzt worden seien, erklärte er in seinem Buch «På ski over Grønland», dessen 1891 ins Deutsche übersetzte Ausgabe aus unerklärlichen Gründen den Titel «Auf Schneeschuhen durch Grönland» trug. Nansens Buch löste international grosse Begeisterung aus, und viele LeserInnen wollten unbedingt ausprobieren, wie dieses seltsame Skifahren denn wohl funktioniere. Europaweit gründeten sich Skiklubs, in denen man Bewegung und Naturerlebnis miteinander verband.
Gelaufen wurde natürlich im traditionellen Stil. Bis eine in den siebziger Jahren begonnene schleichende Revolution schliesslich damit endete, dass Langläufer heutzutage ihren Sport nur noch breitbeinig ausüben. Wer den mittlerweile als Skating-Technik bekannten Stil erfunden hat, ist unklar. Vielleicht war es tatsächlich der im Jahr 1938 im finnischen Simpele geborene Polizist Pauli Siitonen. Seine grosse Liebe galt dem Langlauf, mit grosser Begeisterung nahm er europaweit an Langdistanzrennen teil.
Aber Pauli hatte, ebenso wie seine Konkurrenten, ein Problem. Auf den neuen Kunststoffskiern hielt das Wachs nicht so lange, wie er es von seinen alten Holzmodellen gewohnt war. Wenn sich das Material nicht ändern lasse, dann müsse halt der Mensch sich ändern, beschloss der Hobbysportler und erinnerte sich an den Stil, bei dem der Athlet sich bewegt wie ein Eisschnellläufer. Bei den grossen Volksläufen wurden damals immer mal wieder breitbeinige Ausfallschritte gemacht. Siitonen sollte der erste Amateur werden, der regelmässig skatete.
Seine MitbürgerInnen waren auf diese Neuerung jedoch definitiv nicht stolz. Mehr als ein Jahrzehnt lang weigerten sich die FinnInnen derart vehement, den neuen Schritt wie manch andere Langlaufnationen nach Pauli Siitonen zu benennen, dass sich schliesslich international die Bezeichnung «Skaten» durchsetzte. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass er mit dafür gesorgt hatte, dass nun plötzlich Sportler aus Ländern, die bisher kaum bei Wintersportarten auf den Siegerpodesten anzutreffen waren, Rennen und Medaillen gewannen. Wie Bill Koch aus Colorado. 1976 war er im Skating-Stil über dreissig Kilometer Zweiter bei der Winterolympiade von Innsbruck geworden, was alle Experten auf den neuen Bewegungsablauf zurückführten.
Koch bestreitet übrigens bis heute, den Schlittschuhschritt in einem offiziellen Wettbewerb eingeführt zu haben. «Kaum jemand weiss, wer es war, nicht einmal derjenige selber», lachte er in einem Interview mit der norwegischen Zeitung «Aftenposten». Die Ehre, so Koch, gebühre dem Deutschen Gerhard Grimmer, «der bei der WM 1974 im schwedischen Falun wie alle anderen Teilnehmer grosse Probleme mit den neuen Glasfiber-Skiern hatte. Niemand wusste, wie man die denn nun wachsen sollte; und Grimmer hatte beim Fünfzig-Kilometer-Rennen schon nach wenigen hundert Metern sein komplettes Wachs verloren.» Um überhaupt vorwärts zu kommen, musste Grimmer skaten. Im Ziel war er zwei Minuten schneller als der Zweite. «Nein, die wenigsten Zuschauer verstanden damals, dass da vor ihren Augen ein neuer Stil kreiert wurde», erinnert sich Koch.
Dabei ist der schlittschuheske Ausfallschritt eigentlich immer gebräuchlich gewesen. Alte Archivaufnahmen belegen zum Beispiel, dass Johan Grøttumsbråten bereits 1931 in Oberhof skatete. Und schon die Organisatoren der Winterolympiade in Squaw Valley 1960 hatten ausdrücklich sehr breite Pistenpräparierungen vorgenommen, sodass die LäuferInnen eben auch skaten konnten. «Die Aktiven nahmen die Einladung jedoch nicht an», erinnert sich Bill Koch, «ich brauchte ja schliesslich auch einige Jahre, bis ich kapierte, dass ich ja schon als Kind bei Skitouren festgestellt hatte, dass ich mit dem Siitonen-Schritt eigentlich viel schneller vorankam.» Es sei dann rasch vielen Profis ähnlich ergangen, merkt er weiter an, «denn plötzlich behielten immer weniger Athleten den traditionellen Stil bei.»
Der Siitonen-Schritt hat sich mittlerweile endgültig durchgesetzt, aber dass nun erneut hunderte Jahre Langlaufruhe herrscht, ist nicht anzunehmen. Bill Koch arbeitet nämlich gerade an einer weiteren Neuerung: Sandlanglauf. Bereits zwei Strände habe er auf Hawaii entdeckt, die absolut skitauglich seien. Das Langlaufen sei dort «absolut grossartig», schwärmt er, «und das Beste: Bei idealen Sandverhältnissen ist Wachsen absolut nicht notwendig.»