Olympische Spiele: «Ich schätze freche Leute»

Nr. 6 –

Hippolyt Kempf kehrt als Disziplinenchef Langlauf und Nordische Kombination in das Land seines grössten Erfolges zurück: Der Goldmedaillengewinner von Calgary über eigenwillige AthletInnen, Fernsehtauglichkeit und Doping.


WOZ: Hippolyt Kempf, Sie sind ein olympisches Urgestein. Zum wievielten Mal reisen Sie nächste Woche an die Spiele?

Hippolyt Kempf: Zum siebten Mal. Als aktiver Sportler war ich in Calgary, Albertville und Lillehammer. Dann als Trainer an den Paralympics in Nagano und Salt Lake City. Vor vier Jahren war ich erstmals als Funktionär in Turin, und jetzt fliege ich nach Vancouver.

Zurück nach Kanada. Dort haben Sie ja Ihren grössten Erfolg gefeiert: Gold in der Nordischen Kombination – Skispringen und Langlauf.

Ich lebe natürlich in einer historischen Verklärung: Calgary 1988 war etwas vom Schönsten, das mir im Leben passiert ist. Mein Leben war dort für zwei, drei Stunden dermassen intensiv, dass ich nicht behaupten kann, ich ginge ungern wieder nach Kanada.

Medaillen sind das Schönste?

Nein, ich meine damit nicht nur den Sieg. Die ganzen Spiele waren unglaublich intensiv. Ich hatte in der Vorbereitung extrem viel und hart trainiert, das Limit gesucht. Ich wusste nicht, ob es aufgeht, aber es hat sich dann auf ein einmaliges Ereignis zugespitzt, das ich in dieser Form nie mehr erlebt habe.

Sie können sich angeblich noch an jeden Meter der Langlaufstrecke erinnern.

Das ist unglaublich präsent in meinem Kopf: Ich kann mich immer noch erinnern, wo es Sonne und wo es Schatten gab. An welchen Stellen ich welche taktischen Entscheidungen getroffen habe.

Was sind die Ziele der Nordischen in Vancouver?

Wir wollen eine Medaille mit Dario Cologna, das traue ich ihm auch zu. Und dann ein paar Diplomränge: Im Team für die Kombinierer wäre ein fünfter Platz schön; und in der Langlaufstaffel sollte auch etwas drin sein.

Sie selbst sind als Junior aus dem Kader ausgeschlossen worden. Man hat Ihnen gesagt, Sie hätten nicht genügend Talent.

Ja, das ist richtig. Ich war aber immer schon ein relativ sturer Mensch und bin dann selbst ans Skigymnasium in Österreich gegangen. Der Schweizer Verband hat sich auch relativ kulant gezeigt, unter Auflagen könnte ich dann im Kader verbleiben. Klar, ich musste meinen Weg selbst gehen, ich musste Initiative zeigen. Aber im Nachhinein kann ich sagen, das ist es, was mich stark gemacht hat.

Sie mögen Athleten, die eigene Wege gehen?

Athleten, die sich auflehnen, übernehmen grundsätzlich mal Verantwortung. Das ist schon mal eine gute Voraussetzung für Höchstleistungen. Darum schätze ich Leute, die frech sind, die den Mut haben, sich zu äussern und sich auch mal gegen mich oder andere stemmen. Ich habe nicht nur umgängliche Athleten, und das ist auch richtig so.

Sie haben sich 2005, als Sie bereits einmal Disziplinenchef der Nordischen waren, beklagt, dass die Nordischen beim Verband Swiss-Ski nicht genügend Stellenwert hätten. Warum ist das so?

Ich sehe das langsam etwas anders. Ich habe immerhin von meinem Sport leben können. Einer, der fechtet oder rodelt, kann das nicht. Nur im Vergleich zu den Alpinen geht es uns relativ schlecht, aber wir sind immer noch Könige der Bettler. Und die Euphorie um Dario Cologna zeigt, dass unsere Erfolge auch beachtet werden.

Das kennen Sie ja auch aus eigener Erfahrung: Vor Calgary wusste kaum jemand, was die Nordische Kombination ist.

In Calgary hatten wir auch das Glück, eines der modernsten Sportformate zu haben. Als einzige Disziplin mit einem Jagdstart im Langlauf, bei dem durch die Springresultate vorgegeben ist, in welcher Reihenfolge gestartet wird. Und das am Sonntagabend vor der Schlussfeier – das gab die höchste Einschaltquote.

Tut denn Fernsehtauglichkeit dem Sport gut?

Als Ökonom kann ich natürlich rechnen (lacht). Nun, man kann halt nicht das Geld verteufeln und dann Freude an neuen sportlichen Höchstleistungen haben. Sonst würden die Skifahrer immer noch mit Holzskiern auf unpräparierten Pisten starten. Die Ökonomisierung hilft mit, dass im Skispringen das ganze System zwischen Ski, Körper und Fluggerät optimiert wird. Das war zu unserer Zeit noch nicht so.

Und die Sportlerinnen und Sportler sind gerne im Fernsehen?

Ja, Sportler wollen das, was sie können, auch im Wettbewerb zeigen. Als alter Gambler habe ich Wettkampfsituationen äusserst gern gehabt. Ich war dabei sehr extrovertiert, im Gegensatz zum Training. Ich glaube, Sportler haben ein Show-Gen. Da gehört Fernsehen dazu.

Wo soll das Geld für Sport herkommen?

Das ist heute gut geregelt, finde ich, und es ist auch viel Geld da. Die Ausdifferenzierung aber, dass es nicht nur für die Spitzen Geld gibt, sondern auch für das, was man investiert hat, die läuft noch. Als mittlerweile sehr liberaler Ökonom sage ich, mittelfristig funktioniert das gut. Kurzfristig gibt es sicher Probleme. Zum Beispiel dann, wenn man auf einem Platz hinter der absoluten Spitze steht.

Das Geld müsste also anders verteilt werden?

Ja, man müsste allenfalls die Prämien unter allen aufteilen. Eigentlich ist diese Idee ein Abfallprodukt meiner Dissertation. Ich stelle einfach fest, dass der Sport eine gewisse Logik hat und der Markt eine andere.

Einzelne Figuren wie Roger Federer werden überproportional bezahlt, obwohl sie körperlich ja nicht mehr leisten als Langläufer.

Der Markt honoriert nicht dasselbe wie der Sport. Meine These ist: Wenn ich den Sport isoliert anschaue, müssen die Regeln und Chancen gleich sein, damit es spannend bleibt. Auch beim Geld. Man lebt hier die Fairness und Chancengleichheit wie nirgends sonst. Und das muss man so glaubwürdig präsentieren, dass Aussenstehende darauf wetten könnten. Wenn jetzt die Logik des Marktes dazukommt, der sich aussucht, wen er fördern will, durchbricht das die Sportlogik.

Die Logik im Sport besagt aber auch, dass eben nicht alle die gleichen Chancen haben. Vom Talent her zum Beispiel.

Von der Tradition her haben alle dieselben Chancen. Vor zwanzig Jahren, da starteten die Profis noch eine halbe Stunde später. Man sagte, die haben die besseren Möglichkeiten, also muss man die Gleichheit wieder herstellen. Aber das hat man einfach alles abgeschafft. Trotzdem wird im Sport heute noch versucht, die Chancengleichheit herzustellen, indem man beispielsweise die Länge der Sprungski oder der Langlaufstöcke bestimmt.

Diese Chancengleichheit wird von Athleten und Athletinnen aber immer wieder unterwandert: mit Doping.

Als Ökonom bin ich glücklich über Restriktionen. Wenn der Wettbewerb freigegeben würde, ginge es nur noch darum, wer die besten Mediziner und Blutaufbereitungsanlagen hat. Das interessiert mich nicht. Ich will den puritanischen Wettbewerb im Sport. Das hat nicht viel mit Ethik zu tun, im Sinn von «Doping ist schlecht». Aus ökonomischen Überlegungen ist es logisch, dass das aufhören muss. Die Vertuschungskosten steigen ja ins Unendliche. Das frisst ja dermassen Geld, also bitte ...

Jeden Winter stehen die Langläufer aber wieder im Zentrum der Dopingdiskussion.

Man hat die Schrauben von Jahr zu Jahr stärker angezogen. Und es wird immer schwieriger, nicht erwischt zu werden. Jetzt wird es wieder interessant mit klassischen Methoden zu arbeiten, mit Höhentraining beispielsweise. Mittlerweile müssen alle mit Kontrollen rechnen.

Und Sie denken wirklich, das schreckt ab?

Ärzte müssen ihre Lizenz verlieren, wenn sie Doping verabreichen. Das ganze Umfeld hinter dem Doping muss bestraft werden. Der Fall Turin – die Razzia bei den österreichischen Langläufern – hat gezeigt, dass alle kalte Füsse bekommen, wenn riesige Cluster überführt werden.

Was tut eigentlich ein Sportökonom beim Bundesamt für Sport?

Der überlegt sich die wirtschaftlichen Aspekte des Sportes. Beispielsweise, wie viel Geld schweizweit im Sport umgesetzt wird. Er versucht herauszufinden, wie Prämiensysteme und ideale Wettbewerbe funktionieren. Es ist die ökonomische Analyse des Sports. Sport ist herrlich.

Sie berechnen also, ob sich Investitionen in den Sport lohnen. Zum Beispiel in Sportgymnasien.

Das lohnt sich ohnehin nie.

Nicht?

Wenn man so rechnet, rein finanziell, lohnt es sich nie. Wenn ich die Wirtschaftsmatura gemacht hätte und dann dreissig Jahre lang bei der Credit Suisse gearbeitet, wäre ich viel reicher. Im Vergleich dazu bin ich armengenössig.

Warum lohnt es sich denn trotzdem?

Wenn ich jetzt umkippe und ins Grab falle, dann hab ich wunderschöne Momente im Kopf. Und weiss, dass ich einmal in meinem Leben zigtausend Menschen eine Freude bereitet habe. Als CS-Verwaltungsrat dürfte ich das wohl kaum behaupten. Ich bin stolz auf meine sportliche Leistung.

Aber was ist Stolz ökonomisch betrachtet schon wert?

In der Spitzensportförderung ist ein hoher Grad an nicht Monetifizierbarem drin. Man muss sehr viel Freude am Sport haben. Daran, dass sich junge Menschen einsetzen und ein Lebensziel haben. Auch wenn sie nur ein B-klassiges Tennisturnier gewinnen. Man muss die Erziehungswirkung gut finden. Dann rechnet sich das für einen Staat.

In Zahlen tut es das nicht.

Nein, die Zahlen so rumschieben, dass das passt, das kann nicht einmal ein Sportökonom des Bundesamtes für Sport. Vergleichen Sie es einfach mit der Kultur – die muss auch gefördert werden. Und Sport findet man entweder lässig oder nicht. Genau wie man Kultur wichtig finden kann oder nicht.


Vom Medaillengewinner zum Disziplinenchef

Der Luzerner Hippolyt Kempf (45) hat 1988 in Calgary dazu beigetragen, dass die dortigen olympischen Spiele die bisher erfolgreichsten für Schweizer SportlerInnen wurden: Er gewann eine Goldmedaille in der Nordischen Kombination im Einzel und die Silbermedaille im Team. In Lillehammer, sechs Jahre später, gewann Kempf Bronze. Nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport 1994 begann er an der Universität Fribourg ein Studium in Volkswirtschaft.

Nach zwei Jahren kehrte Kempf zumindest nebenberuflich in die Sportwelt zurück: Als Cheftrainer Nordisch in der paralympischen Nationalmannschaft. Nach seiner Dissertation trat er eine Stelle als Sportökonom beim Bundesamt für Sport (Baspo) an. Sein dortiges Pensum hat er im vergangenen Sommer für eine Weile reduziert: Seither ist er beim Schweizer Skiverband als Swiss-Ski-Disziplinenchef Langlauf und Nordische Kombination angestellt.