«Die Frauenkoalition hält so lange, bis es um die Kohle geht» 2019 zogen so viele Frauen wie nie ins Parlament ein. Was bedeutete das für gleichstellungspolitische Anliegen in dieser Legislatur? Eine Bilanz.

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Illustration: der Bundesrat, dargestellt als Tiere, steht auf dem Bundesplatz
Illustration: Anna Haifisch

«Helvetia ruft, die Frauen eilen herbei», titelte die NZZ, «Helvetia hat gerufen und gewonnen», hiess es im «Tages-Anzeiger», «Riesiger Sprung für die Frauen», meinte der «Blick». Am Montag nach den letzten eidgenössischen Wahlen vom 21. Oktober 2019 war der Erfolg der Frauen neben jenem der grünen Parteien das bestimmende Thema in den Schlagzeilen. Der Frauenanteil im Parlament stieg auf ein Allzeithoch seit Einführung des Frauenstimmrechts vor knapp fünfzig Jahren: im Nationalrat von 32 auf 42 Prozent, im Ständerat von 15 auf immerhin 26 Prozent.

Einen wesentlichen Anteil am Erfolg hatte der Frauenstreik im Juni 2019 mit Hunderttausenden von Teilnehmer:innen quer durch die Schweiz und alle Branchen. Die überparteiliche Kampagne «Helvetia ruft» hatte sich im Vorfeld der Wahl zudem um möglichst viele Kandidaturen von Frauen bemüht. Die allegorische Frauenfigur Helvetia verkörpert seit dem 17. Jahrhundert die Sehnsucht nach einem nationalen Konsens, kann aber auch immer zur Kritik am Status quo eingesetzt werden, in diesem Fall an der Männerdominanz in der Politik. Wichtig für die Steigerung des Frauenanteils war schliesslich auch der Mitte-links-Rutsch. Beträgt die Frauenquote in dieser Legislatur bei den Grünen im Bundeshaus 62 Prozent, liegt sie bei der SVP nur bei 26 Prozent. Je stärker die Linke im Parlament, umso stärker sind die Frauen vertreten – so einfach ist die Rechnung.

Wie aber hat sich die stärkere Vertretung der Frauen in den letzten vier Jahren konkret auf gleichstellungspolitische Forderungen ausgewirkt? Ruft man bei Tamara Funiciello an, einer der bekanntesten jungen Feministinnen des Landes, Kopräsidentin der SP-Frauen und 2019 neu in den Nationalrat gewählt, kommt die Antwort schnell: «Durchzogen bis negativ.»

Mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs

Die SP-Frauen haben eine gleichstellungspolitische Bilanz der im Herbst zu Ende gehenden Legislatur erstellt. Bei der Durchsicht der Vorstösse zum Thema zeigt sich: Anliegen zur Gleichstellung wurden in den letzten vier Jahren zwar breit diskutiert, von der Lohngleichheit über die externe Kinderbetreuung bis hin zur sexualisierten Gewalt. Auffällig aber ist: Erfolge für die Frauen wurden vor allem bei gesellschaftspolitischen Forderungen erzielt. Einen weit schwierigeren Stand hatten sozialpolitische Anliegen, bei denen es neben der rechtlichen auch um die ökonomische Besserstellung der Frauen ging. Diese Fragen wurden stärker entlang der Parteigrenzen entschieden. Beispielhaft für den Unterschied stehen die Revision des Sexualstrafrechts auf der einen, die Altersvorsorge auf der anderen Seite.

«Beim Sexualstrafrecht waren wir mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs», erzählt Funiciello begeistert. Vier Jahre sei es her, dass sie sich in einem Berner Restaurant mit Gleichgesinnten getroffen habe. «Da fällten wir den strategischen Entscheid einer Zusammenarbeit zwischen Aktivist:innen, NGOs und Parteien.» Insbesondere sollte die Zustimmungslösung «Nur Ja heisst Ja» forciert werden, wonach eine sexuelle Handlung ohne Einwilligung der jeweiligen Partner:innen als Vergewaltigung gelten soll. Bei den SP-Frauen habe man eine Teilzeitstelle geschaffen, um diese Neuerung voranzutreiben. «Wir haben also auch finanziell investiert», sagt die Bernerin. Entscheidend für das hohe Tempo sei die Vernetzung gewesen: innerhalb des Bundeshauses, zwischen linken und bürgerlichen Frauen, aber auch über das Parlament hinaus mit der feministischen Bewegung.

Eine wichtige Rolle bei der Beratung im Bundeshaus spielten freisinnige Frauen wie Susanne Vincenz-Stauffacher, die seit der letzten Wahl ebenfalls neu in Bern politisiert. Die Rechtsanwältin schwärmt wie Funiciello von der guten Vernetzung der Frauen im Parlament. Trage ein Vorstoss als Absenderin den Namen Funiciello, habe er in der rechten Ratshälfte kaum eine Chance, ebenso wie einer mit dem Namen Vincenz-Stauffacher in der linken. «Wenn wir uns hingegen gemeinsam auf einen Vorstoss einigen, kann es sehr schnell gehen.» Als positives Beispiel erwähnt die St. Gallerin das 24-Stunden-Beratungsangebot für von Gewalt betroffene Personen, das 2021 beschlossen wurde. Beim Sexualstrafrecht gelang schliesslich die Sensation: Der Nationalrat stimmte im Dezember 2022 der «Nur Ja heisst Ja»-Lösung mit 99 zu 88 Stimmen zu.

Dass überhaupt eine gesonderte Vorlage zum Sexualstrafrecht beraten wurde, war zu Beginn der Legislatur das Verdienst der Frauen im Ständerat. Dafür eingesetzt hat sich die Grüne Lisa Mazzone. «Es waren vielleicht meine härtesten Kommissionssitzungen. Als junge, linke Frau aus der Romandie musste ich mich gegen die Männermehrheit besonders behaupten», erinnert sich die Genferin. Beispielhaft für die Ignoranz gegenüber dem Thema steht der herablassende Tweet von SVP-Ständerat Hannes Germann, wonach er lieber ein Handballspiel seiner Kadetten Schaffhausen geschaut als stundenlang über das Sexualstrafrecht diskutiert hätte.

Illustration: der Bundesrat, dargestellt als Tiere, tagt im Bundesrats-Zimmer
Illustration: Anna Haifisch

In dieser Frühlingssession hat die kleine Kammer nun abschliessend über das Gesetz beraten. Zwar setzte sich die Widerspruchslösung «Nein heisst Nein» durch: Als Vergewaltigung wird künftig eine sexuelle Handlung bewertet, die gegen den expliziten oder impliziten Willen einer beteiligten Person erfolgt. Mazzone und ihren Mitstreiter:innen ist es allerdings gelungen, dass bei der Beurteilung der Tat auch der Schockzustand von Opfern berücksichtigt wird und die verpflichtende Aufarbeitung für Täter:innen ins Gesetz kommt. «Gegenüber der bisherigen Regelung ist das ein riesiger Fortschritt», sagt Mazzone. «Wir gehen als grosse Siegerinnen vom Platz», pflichtet ihr Kollegin Funiciello bei. «Wer hätte gedacht, dass wir das in einer Legislatur schaffen.» So weit also die eine Seite der Geschichte, die gesellschaftspolitische.

Die Sicht der Gutverdienenden

Wie die andere aussieht, kann Barbara Gysi aus eigener Erfahrung schildern. Die Gewerkschafterin ist eine profilierte Sozialpolitikerin, mit der Annahme der Pflegeinitiative konnte die St. Galler Nationalrätin in dieser Legislatur einen grossen Erfolg verbuchen. Doch bei der Altersvorsorge sieht es anders aus. «2019 wurden zwar erfreulicherweise mehr Frauen gewählt. Aber halt auch viele gut Ausgebildete und damit auch Besserverdienende, gerade bei der GLP und den Bürgerlichen. Und die Sicht der Gutverdienenden auf die Welt hat sich durchgesetzt», sagt Gysi. Das zeigte sich bei der Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre, die von den Stimmberechtigten im Herbst 2022 äusserst knapp und gegen den Willen der Mehrheit der Frauen angenommen wurde. Der Streit mit den bürgerlichen Frauen und der GLP wiederholt sich bei der laufenden BVG-Revision um die Pensionskassenrenten. Ein Vorschlag des Frauenverbands Alliance F wird von den linken Politikerinnen bekämpft. «Dabei wird die Lebensrealität der Tieflöhnerinnen schlicht nicht berücksichtigt», sagt Gysi.

Susanne Vincenz-Stauffacher hat die Rentenaltererhöhung befürwortet und wurde darum von links als Teppichetagenfeministin bezeichnet. Sie wehrt sich gegen den Vorwurf einer Oberschichtsperspektive auf die Welt. «Als Anwältin kenne ich die Lebensrealitäten vieler Frauen.» Nur finde sie aufgrund ihrer liberalen Prinzipien, dass sich die Frauen bei Renten und Löhnen selbst in die Pflicht nehmen müssten. «Bezüglich Lohngleichheit kann ich den Frauen nur raten: Verhandelt besser, gopfertelli!» Sie bestreite nicht, dass es einen Gendergap bei den Löhnen gebe, einen Unterschied, der sich nur mit dem Geschlecht erklären lasse. «Doch zur Behebung braucht es keine staatlichen Vorschriften, sondern eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie angemessene Rahmenbedingungen für Unternehmen. Nur wenn die gedeihen, gibt es auch gute Arbeitsplätze und damit höhere Löhne.»

Tamara Funiciello lässt das nicht gelten: «Indem sie dem Mythos der ‹self-made woman› anhängen, vergessen die bürgerlichen Frauen, dass ihre Gleichstellung nur auf dem Rücken vieler anderer Frauen möglich wurde.» Auf Kosten der Kitabetreuerinnen etwa, die zu tiefen Löhnen auf ihre Kinder schauten, oder auch der Pflegerinnen, die ihre betagten Eltern betreuten. Für Funiciello ist deshalb klar: «Ein Feminismus, der die Klassenverhältnisse nicht berücksichtigt, ist ein ausschliessender Feminismus.» Bei all den schönen Netzwerkerfolgen und der überparteilichen Zusammenarbeit habe sie in dieser Legislatur ernüchtert feststellen müssen: «Die Frauenkoalition hält so lange, bis es um die Kohle geht.»

Die Grüne Mazzone teilt zwar diese grundsätzliche Einschätzung, pocht aber auf ein etwas differenzierteres Bild: In diese Legislatur falle auch die erfolgreiche Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub, auch die dauerhafte Beteiligung des Bundes an den Kitakosten sei auf gutem Weg. «Das sind kleine Fortschritte, die aber selbstverständlich nicht genügen.»

Männerbastion geknackt

Und wie hat sich schliesslich die Atmosphäre unter der Bundeshauskuppel verändert? Barbara Gysi, die von den hier Zitierten am längsten im Parlament dabei ist, registriert, dass Frauen einen «faireren Umgang» in die Diskussionen bringen. Allerdings habe in dieser Legislatur vor allem die Coronapandemie und damit der Streit über die Massnahmen die Gesprächskultur stark beeinflusst. «Da ging es phasenweise ruppig zu und her.» Funiciello sagt, sie habe sich nach ihrer Wahl erst einmal bemühen müssen, überhaupt ernst genommen zu werden. «Das geht den meisten Frauen so, innerhalb und ausserhalb der Partei.» Noch immer verbreitet sei der Selbstbezug der Männer in den Kommissionen. «Es kommt häufig vor, dass ein Dude die Idee einer Frau als seine eigene ausgibt.»

FDP-Frau Vincenz-Stauffacher gibt unumwunden zu, dass sie mit ihren Positionen parteiintern auch schon auf Kritik gestossen sei. «Doch insgesamt wird den FDP-Frauen ein grosser Spielraum zugebilligt», sagt sie. So habe man beim Vaterschaftsurlaub die Ja-Parole beschlossen, während die Mutterpartei dagegen gewesen sei. Lisa Mazzone wechselte 2019 vom National- in den Ständerat. Anfangs habe sie sich fehl am Platz gefühlt. «Die Männer haben uns zu verstehen gegeben, dass nur sie wissen, wie man richtig politisiert.» Doch was der Ständerat sei, das bestimmten nun einmal alle, die gewählt worden seien. In den Diskussionen habe sie bei den Männern häufig Unsicherheiten gespürt: «Es gibt Begriffe wie etwa ‹Paternalismus›, die man nicht benutzen kann, ohne eine genervte Reaktion auszulösen. Das hat wohl damit zu tun, dass die Männer merken, dass sie die Macht mit uns teilen müssen.»

Die ganze Diskussion um Wokeness und «Cancel Culture», die von der SVP angezettelt wird, verstehe sie als Reaktion auf die Infragestellung dieses patriarchalen Weltbilds. Und doch ist Mazzone überzeugt: «Für den Ständerat war das eine Schlüssellegislatur. Ich habe den Eindruck, dass wir die Männerbastion Ständerat definitiv geknackt haben. Sogar die Kleiderordnung wurde angepasst: Neu sind Frauen auch schulterfreie Kleider erlaubt.»

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