Ständeratswahl: Gegen die konservative Allianz

Nr. 9 –

Um den freien Ständeratssitz in St. Gallen bewerben sich nur Frauen. Doch ist eine reine Frauenwahl auch schon eine feministische Wahl?

Ein Foto der St. Galler Ständeratskanditatinnen Franziska Ryser (Grüne), Barbara Gysi (SP), Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) und Esther Friedli (SVP)
Von links nach rechts: Die St. Galler Ständeratskandidatinnen Franziska Ryser (Grüne), Barbara Gysi (SP), Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) und Esther Friedli (SVP). Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone


Esther Friedli bringt den Kaffee. Zumindest auf jedem Wahlplakat streckt sie einem eine Tasse entgegen, «bodenständig und bürgernah» lautet ihr Slogan. Beruflich bezeichnet sie sich als Gastronomin, so wie ihr Lebenspartner Toni Brunner als SVP-Präsident gerne den Bauern gab. Dabei kommt die PR-Beraterin aus dem innersten Machtzirkel der Rechtsaussenpartei: Friedli ist die SVP-Programmchefin. Als solche verantwortet sie das neuste Programm, in dem sich die Partei gegen «Gender-Terror» und «Woke-Wahnsinn» wehrt. Am liebsten möchte Friedli alle Gleichstellungsbüros in der Schweiz abschaffen. Und damit jene Behörden, ohne deren Sensibilisierungsarbeit kaum eine solche Wahl wie die am 12. März in St. Gallen stattfinden würde: eine reine Frauenwahl.

Neben Friedli bewerben sich Barbara Gysi (SP), Franziska Ryser (Grüne) sowie Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) um den Ständeratssitz, der nach dem vorzeitigen Rücktritt von Paul Rechsteiner frei wurde. Mitte-Ständerat Beni Würth muss erst im Herbst wieder antreten. Wie aussergewöhnlich ist die jetzige Frauenwahl? Und welche Rolle spielen dabei feministische Themen?

Ostschweiz im Rückstand

Aus statistischer Sicht kennt kaum jemand die Fortschritte bei der Gleichstellung so gut wie Werner Seitz. Der Politikwissenschaftler leitete bis 2019 die Abteilung Politik, Kultur und Medien beim Bundesamt für Statistik und veröffentlichte das Buch «Auf die Wartebank geschoben» zum Kampf der Frauen um die Gleichstellung. Selbst in St. Gallen aufgewachsen, meint Seitz zur Frauenwahl in seinem Heimatkanton: «Ganz so ungewöhnlich ist sie nicht.» Zwar habe St. Gallen wie alle Ostschweizer Kantone 1971 das Frauenstimmrecht abgelehnt und später wiederholt Nein zu gleichstellungspolitischen Fragen gesagt, vom neuen Eherecht bis zur Mutterschaftsversicherung. «Auch bei der Vertretung der Frauen im Nationalrat ist der Kanton mit einer Quote von einem Drittel nur Mittelmass.» Aber in die Männerbastion Ständerat schicke man seit 1995 fast immer eine Frau aus der FDP, zuletzt die heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter.

An diesen Erfolg anknüpfen soll nun für die Partei Susanne Vincenz-Stauffacher. Sie ist gesellschaftspolitisch aufgeschlossen, setzte sich beim Sexualstrafrecht für die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung ein. Sozialpolitisch vertritt sie das Standesbewusstsein des St. Galler Freisinns, ob bei der Erhöhung des Frauenrentenalters oder der Individualbesteuerung. Davon profitierten vor allem Begüterte. Anders Barbara Gysi, die sich als Sozialpolitikerin mit ihrem Einsatz für Menschen mit niedrigeren Einkommen, in der Mehrzahl Frauen, einen Namen gemacht hat. Ihr grösster Erfolg ist die Annahme der Pflegeinitiative, aktuell wehrt sie sich gegen die Pensionskassenreform. Diese breche mit dem Versprechen, die Renten für geringverdienende Frauen zu erhöhen, argumentiert die SP-Frau. Franziska Ryser engagiert sich stärker in der Klimapolitik, setzt sich aber ebenfalls für Lohngleichheit und Rentenverbesserungen ein.

«Bis anhin spielten feministische Themen im Wahlkampf kaum eine Rolle», beobachtet die Historikerin Judith Grosse, die das Ostschweizer Frauen-, Geschlechter- und Sozialarchiv leitet. «Am meisten sind bei Barbara Gysi klare Akzente erkennbar, gerade bezüglich der Arbeitsbedingungen von Frauen.» Dass im Wahlkampf nur wenig über Gleichstellung diskutiert werde – trotz des angekündigten Frauenstreiks am 14. Juni –, habe wohl auch mit der reinen Frauenauswahl zu tun. «Zwar ist es durchaus positiv, dass die Kandidatinnen nicht auf ihr Geschlecht reduziert werden», sagt Grosse. Doch wenn am Ende Friedli gewählt werde, sei das keine feministische Wahl. «Das SVP-Programm bringt keine strukturellen Verbesserungen bei der Geschlechtergleichheit. Entsprechend würde Friedlis Wahl nichts an den patriarchalen Verhältnissen ändern.»

Die SVP-Frau gilt gemäss einer Umfrage des «St. Galler Tagblatts» als Favoritin. Sie kommt demnach auf fast 42 Prozent der Stimmen. Zu ihrer Wahl aufgerufen hat auch Mitte-Politiker und Bauernpräsident Markus Ritter, der auf eine weitere fügsame Stimme im Ständerat für sein Machtkartell hofft. Ryser und Gysi kommen in der Umfrage zusammen auf einen Anteil von 36 Prozent, wobei Ryser leicht besser abschneidet. Die linken Parteien haben abgemacht, dass sich die Kandidatin mit der tieferen Stimmenzahl im zweiten Wahlgang zurückzieht. Vincenz-Stauffacher erreicht gemäss Umfrage einen Anteil von 20 Prozent.

Hochspannung garantiert

Wenn man Friedli noch als Ständerätin verhindern wolle, müssten sich alle anderen im zweiten Wahlgang hinter Vincenz-Stauffacher versammeln, kommentierte das «Tagblatt» bereits. Liegt aber am 12. März nur schon eine der linken Frauen vor der FDP-Frau, könnte auch diese zu Friedlis Hauptkonkurrentin werden. Ob Vincenz-Stauffacher dann nochmals ins Rennen steigt, ist offen. Wie auch immer: Die Wahl in St. Gallen verspricht Hochspannung, könnte doch die zweite Runde zum Showdown zwischen dem progressiven, urbanen St. Gallen und der konservativen Allianz der SVP-Programmchefin mit dem obersten Bauernlobbyisten werden. Gleichstellungsfragen dürften spätestens in dieser Auseinandersetzung eine wichtigere Rolle spielen.