Die Macht der Frage In ihrem Dokumentarfilm «Die Anhörung» dringt Lisa Gerig ins Zentrum der Schweizer Asylpolitik vor. Eine akribische Machtstudie, ein politisches Kunststück.

wobei 1/

Filmstill aus «Die Anhörung»: Asylsuchende befragt eine Migrationsbeamtin
Für einmal vertauschte Rollen: Die Asylsuchende (rechts) befragt eine Migrationsbeamtin. Still: © Ensemble Film, 2023

Leise öffnet sich der Rollladen, Tageslicht erhellt den leeren Raum mit dem Spannteppich. Grau ist alles gehalten auf dieser Büroetage, der einzige Farbtupfer ist ein grün leuchtendes Notausgangsschild. Einige Personen tragen Tische durch den Flur, installieren Computer, pinnen eine Weltkarte an die Wand. Auf die Tische legen sie Notizblöcke. «Und hier noch die Taschentücher zum Weinen. Denn man weint so viel», sagt eine Frau. Die Befragungen können beginnen.

Ein Tisch, vier Stühle, der Bürotrakt: Mehr wird es als Kulisse nicht zu sehen geben im Dokumentarfilm «Die Anhörung» von Lisa Gerig. Die Regisseurin stellt darin Befragungen nach, wie sie das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit Asylsuchenden durchführt. Anhörungen, die sonst unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Allerdings trifft der Begriff der Nachstellung oder des Reenactments die Anlage nicht ganz: Die vier Mitarbeiter:innen, die im Film auftreten, arbeiten zwar alle für das SEM oder haben früher für die Behörde gearbeitet, die vier Asylsuchenden haben schon um Schutz in der Schweiz ersucht. Sie treffen im Film aber zum ersten Mal aufeinander, um je zu zweit eine Befragung nach Vorgaben des SEM durchzuspielen, begleitet von Dolmetscher:innen und Protokollführer:innen. Aus dem Spiel wird sofort Ernst.

«Für Sie gilt die Mitwirkungspflicht», eröffnet der erste Befrager ein Gespräch. «Nur wenn Sie vollständig und wahrheitsgetreu aussagen, ist es uns möglich, Ihr Asylgesuch zu prüfen», sagt die Befragerin im nächsten Interview. Die Asylsuchenden, die aus Nigeria, Kamerun, Afghanistan und Indien stammen, beginnen darauf, ihre Geschichte zu erzählen. Das Kammerspiel im Bürotrakt entfaltet seine Spannung: Lisa Gerig dringt in ihrem Film ins kaum bekannte Zentrum des Asylsystems vor. Und lässt die darin herrschende Selbstgewissheit mit einem dramaturgischen Trick einstürzen.

Die zwei Enden des Tisches

«Ich bin viele Umwege gegangen», erzählt die Regisseurin bei einem Kaffee im Zürcher Zentrum Lochergut, gefragt nach der Idee zu ihrem Film. Vier lange Jahre hat sie zum Asylverfahren recherchiert, als Ausgang diente ihr ein Zitat von Bertolt Brecht aus den «Flüchtlingsgesprächen»: «Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.» Gerig führte Interviews mit Geflüchteten, Aktivisten, Juristinnen, Traumatherapeuten – und mit Mitarbeiter:innen des SEM. «Irgendwann wurde mir klar, dass der zentrale Moment im Asylverfahren die Befragung ist. Es ist der Moment, in dem alles kippen kann, zugunsten oder zuungunsten der Asylsuchenden.»

Portraitfoto von Regisseurin Lisa Gerig
«Ich bin viele Umwege gegangen»: ­Regisseurin Lisa Gerig. Foto: Florian Bachmann

Gerig beschaffte sich öffentlich zugängliche Unterlagen, die über das Verfahren Auskunft geben. Sie las sich durch Protokolle von Befragungen, die ihr Anwält:innen zur Verfügung gestellt hatten. Die schwierigste Aufgabe war es, SEM-Mitarbeiter:innen zu finden, die im Film mitmachen. «Viele haben mich gerne getroffen, wollten aber im Film nicht das Gesicht des Bösen darstellen.» Auch die Behörde habe zurückhaltend bis skeptisch kommuniziert. Dank guten Kontakten zum Zürcher Solinetz war es einfacher, Geflüchtete für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Sie waren bereit, nochmals eine Anhörung über ihre Biografie auf sich zu nehmen, sofern im Gegenzug die SEM-Mitarbeiter:innen ihnen Red und Antwort stehen würden: «Sie wollten nicht nur befragt werden, sondern auch selbst befragen.» Sie wollten für einmal an beiden Enden des Tisches sitzen: an jenem der Ohnmacht – und an jenem der Macht. Eben diese Umkehrung der Rollen gibt dem Film seinen Dreh.

So sieht man nun, wie ein SEM-Mitarbeiter den afghanischen Asylsuchenden über jene gewalttätige Kontrolle befragt, die ihn in die Flucht getrieben hat. Stets auf der Suche nach Realkennzeichen, wie sie in der Aussagepsychologie heissen: nach Details wie Gerüchen, Farben oder Orten, die eine Geschichte glaubwürdig erscheinen lassen. Man sieht später umgekehrt den Asylsuchenden, wie er den Beamten befragt und von ihm wissen möchte, wie er einst Mitarbeiter des SEM wurde. Dieser kann sich nicht an sein Bewerbungsgespräch erinnern. Wobei, den Anruf mit der Zusage für seine Anstellung, den habe er in der Badewanne erhalten. «Das könnte man dann wohl, sorry, als Realkennzeichen bezeichnen», meint er und lächelt verlegen.

Die Wahrheit als Fiktion

Was ist wahr? Was erscheint nur in der Erinnerung als wahr? Wer legt überhaupt fest, was die Wahrheit ist? Es sind diese Fragen, die das fest gefügte Setting im Bürotrakt ins Wanken bringen. «Sie haben die Macht, eine Entscheidung zu fällen. Was denken Sie darüber?», will eine Asylsuchende von der SEM-Mitarbeiterin wissen, die soeben sie befragt hat. «Ich muss überlegen, wie ich darauf antworten will», sagt diese. «Sie können sich Zeit nehmen zum Antworten. Wenn es Ihnen unangenehm ist, müssen Sie nicht antworten.» Im Büro herrscht Stille. «Wir können zur nächsten Frage», sagt die Mitarbeiterin schliesslich. Es sind solche Momente, in denen die Wahrheitssuche als das erscheint, was sie eben auch immer ist: die reinste Fiktion.

Denn logischerweise erzählen die Asylsuchenden jene Wahrheit, von der sie ausgehen, dass sie vom SEM erwartet wird. Und natürlich fragen die Mitarbeiter:innen nach Widersprüchen, wie es ihnen von Amtes wegen aufgetragen ist. Darin liegt das politische Kunststück von Gerigs akribischer Machtstudie: Sie öffnet die Tür zum Raum in der Mitte des Schweizer Asylverfahrens, in dem über Schutz oder Ausweisung entschieden wird. Und zeigt, dass dieses Büro komplett leer ist. Es wird darin weniger über feststehende Tatsachen entschieden, sondern vor allem über wechselseitige Annahmen.

Die Befragungen mögen darauf abzielen, ob Asylsuchende den Flüchtlingsbegriff nach der Genfer Konvention erfüllen. Doch mindestens so sehr konstruieren sie das nationale Selbstverständnis. Die Wirkung dieses Ein- und Ausschlusses drückt der Oppositionelle aus Kamerun, der nach einer Konferenz in der Schweiz blieb, treffend so aus: «Während der Anhörung muss man alles sagen. Und nach der Anhörung bist du allein. Du bist wie nackt in der Stadt. Die Leute, die dir die Kleider weggenommen haben, sie geben dir keine Kleider mehr.»

Radikal reduziert

Immer wieder haben preisgekrönte Filme den inhumanen Umgang der Schweiz mit Flüchtenden beschrieben: Die Abweisung der Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg in Markus Imhoofs «Das Boot ist voll» (1981), der Kältetod eines kurdischen Buben am Simplon in Xavier Kollers «Reise der Hoffnung» (1990), das Warten von Inhaftierten auf die Ausschaffung in Fernand Melgars «Vol spécial» (2011). Lisa Gerigs Film, der nach der Premiere am Dokfilmfestival CPH:Dox in Kopenhagen bereits mit dem Zürcher Filmpreis ausgezeichnet wurde, reiht sich in diese Tradition ein. Doch er schlägt mit seiner radikalen stilistischen Reduktion ein neues Kapitel auf.

Die damit einhergehende Nüchternheit, der Verzicht auf politische Kommentare, hätten ihr immer wieder Sorge bereitet, erzählt die Regisseurin. Könnte man ihren Film missverstehen, als verharmlosende Beobachtung eines Verfahrens, das die 33-Jährige selbst zutiefst empört? Unterdessen zeige sich das SEM dem Film gegenüber offen und interessiert, sogar die Grenzschutzagentur Frontex habe sich gemeldet, ob sie ihn zur Sensibilisierung ihren Mitarbeiter:innen vorführen könne.

Irgendwann aber waren Gerigs Zweifel an der eigenen Arbeit verflogen. «Man kann meinen Film aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Aber ich bin sicher, dass ihn die Behörden oder rechte Politiker:innen nicht werden instrumentalisieren können.» Dass ihr dies gelungen ist, liegt an allen Beteiligten, die ihre Rolle spielten, um sie dabei infrage zu stellen. Nichts bleibt stärker in Erinnerung als die Anfänge all der Befragungen im Bürotrakt: «So, und jetzt erzählen Sie einmal! Und bleiben Sie bitte bei der Wahrheit …»

«Die Anhörung». In: Solothurn, Landhaus, Fr, 19. Januar 2024, 20.45 Uhr, und Konzertsaal, Mo, 22. Januar 2024, 13 Uhr. Ab 25. Januar 2024 im Kino.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen