Was war der beglückendste Moment? Sechzehn Fragen an Claude Barras, Regisseur von «Sauvages».

WOZ: Claude Barras, was ist Ihre frühste Erinnerung ans Kino?
Claude Barras: «Die Hand», ein Kurzfilm, der mich laut meiner Mutter tief berührt hat, als ich ihn als kleines Kind im Fernsehen sah. Bewusst oder unbewusst hat mich dieser Stop-Motion-Film von Jiří Trnka in meinem ganzen Werdegang beeinflusst, ästhetisch wie politisch. Für mich als Kind aus einer Bauernfamilie, die nicht viel ins Kino ging, war dann auch der erste Film, den ich mit vierzehn Jahren im Kino sah, ein Schock: eintauchen in die Berliner Undergroundszene, mit Wim Wenders’ «Himmel über Berlin», der mich dann während meiner ganzen New-Wave-Jugend begleitete.
Frage: Der erste Schweizer Film, an den Sie sich erinnern können?
Claude Barras: «Les petites fugues» von Yves Yersin am Fernsehen, einmal und dann immer wieder. Wie sich da eine althergebrachte Schweiz mit der Moderne konfrontiert sieht, ist ein Monument von Poesie, Humor und Zärtlichkeit im Umgang mit den Figuren. Und dieses Finale mit dem Gesang des Segelflugzeugs! Ein Meisterwerk.
Frage: Was halten Sie für das ärgerlichste Vorurteil über Schweizer Filme?
Claude Barras: Intellektuell und langsam, humorlos und ohne Publikum … Regisseur:innen, die in ihrem linksbürgerlichen Milieu mit subventioniertem «l’art pour l’art» ihr eigenes Ego streicheln. So versuchen die Neoliberalen, das Image von Künstler:innen zu beschädigen, die es wagen, zum Nachdenken über die blinden Flecken unserer Gesellschaft anzuregen.
Frage: Was war der beglückendste Moment während der Arbeit an Ihrem neuen Film «Sauvages»?
Claude Barras: Das war der Moment, als wir die sehr emotionale Szene der Wiedergeburt meiner Heldin Kéria drehten. Das war auch technisch sehr anspruchsvoll, weil die Szene an einem Fluss spielt, und Wasser ist in einem Stop-Motion-Film immer sehr schwierig darzustellen. Als ich die animierte Sequenz auf dem Set sah, war ich so überwältigt davon, wie feinfühlig der Animator diesen so wichtigen Moment des Films gestaltet hatte, dass ich weinen musste.
Frage: Wann haben Sie Ihren Beruf zuletzt verflucht und aus welchem Anlass?
Claude Barras: Ich schrieb den Film 2018, getragen von den Klimademos, als Grosseltern und ihre Enkelkinder regelmässig für eine nachhaltigere Welt auf die Strasse gingen. Damals, in der Vorbereitung, schien mein Film sehr zeitgemäss … Covid, Kriege und der Aufstieg der Extremen haben seither den Wunsch nach Veränderung zermürbt. Ich kann verstehen, dass die Leute ins Kino gehen, um sich von ihren Sorgen abzulenken, aber ich will mit Geschichten die Welt verändern und festgefahrene Vorstellungen in Bewegung bringen. Das ist sicher zu utopisch für unsere Zeit und etwas prätentiös, aber anders kann ich mir meine Arbeit nicht vorstellen!
Frage: Wovon träumen Sie?
Claude Barras: Von einer Welt, in der die Urwälder und die Ozeane und wir mit ihnen nicht vom Aussterben bedroht sind. Von einer Welt, in der man nicht von Kolonien auf dem Mars träumt, sondern davon, unseren Planeten in Harmonie mit anderen Lebewesen zu bewohnen. Von einer Welt, in der der Beruf des Bauern, der Bäuerin als lebenswichtig für die Gesundheit unseres Landes anerkannt ist.
Frage: Was macht Ihnen Angst?
Claude Barras: Das Verschwinden der letzten wilden Räume, das drastische Schwinden der Biodiversität, die Übersäuerung der Ozeane, die Verschmutzung durch Plastik und Chemie, das Versprechen, dass künstliche Intelligenz die Klimaprobleme lösen werde. Man kommt sich vor wie in «Star Wars»: Die dunkle Seite der Macht schreckt nicht davor zurück, alles Leben auf Erden zu vernichten. Unsere Welt wird regiert von gefährlichen Irren, die grenzenlosen Reichtum anhäufen, um sich immer noch mächtiger zu fühlen! Ich habe eine dreijährige Tochter, und ich verstehe nicht, wie unsere Politiker:innen so zaghaft bleiben und sich weiterhin den Lobbys der Erdöl- und Nahrungsmittelindustrie unterordnen können. Als müssten sie keine Rechenschaft vor den nachfolgenden Generationen ablegen.
Frage: Von welchem Filmemacher, von welcher Filmemacherin haben Sie am meisten gelernt, sei das persönlich oder aus seinen/ihren Filmen?
Claude Barras: Wes Anderson, Jan Švankmajer, die Quay Brothers, Tim Burton, Spike Jonze, Michel Gondry, Michael Dudok de Wit, Hayao Miyazaki, Isao Takahata, Mamoru Hosoda, Jane Campion, Todd Solondz, Andrea Arnold, die Dardennes, Ken Loach, Chloé Zhao, David Lowery, David Lynch, Xavier Dolan, Alain Cavalier, Céline Sciamma, Alain Guiraudie, Deniz Gamze Ergüven, Guy Maddin, Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Ruben Östlund, Park Chan-wook und aus der Schweiz Georges Schwizgebel, Petra Volpe, Stéphane Goël und Ursula Meier … unter anderen!
Frage: Bei welchem Film wären Sie gern Assistent auf dem Set gewesen?
Claude Barras: Bei «Fantastic Mr. Fox» von Wes Anderson, ein ausserordentlich schöner, origineller Stop-Motion-Film von rebellischer Komik.
Frage: Truffaut oder Godard?
Claude Barras: Beide, und noch viele mehr … Ich liebe unabhängige Animationsfilme genauso wie grosse Hollywoodproduktionen, das engagierte Kino wie auch kreative Dokumentarfilme und Genrefilme. Wozu sich entscheiden?
Frage: Drehen Sie lieber digital oder auf Film?
Claude Barras: Digital, mit analogen Figuren und Dekors. Digital zu drehen, ist sehr hilfreich beim Animieren der Figuren, die Technologie steht dabei im Dienst des Menschen. So ist es mir lieber als umgekehrt, wie das leider oft der Fall ist in unserer Gesellschaft, die besessen ist vom Neuen und Schnellen, von Kontrolle und Effizienz.
Frage: Kinos sind immer auch Pilgerstätten. Wo steht das schönste Kino, das Sie je besucht haben?
Claude Barras: Für mich heisst Kino, in einer Höhle, wo ein Feuer Licht und Schatten an die Wände wirft, eine Geschichte zu erzählen. Der äussere Schein ist nicht so wichtig. Wenn das Licht ausgeht, ob im Grand Théâtre in Cannes oder in einem kleinen Quartierkino, entfaltet der uralte Zauber seine Wirkung – und ein bisschen mehr noch unter freiem Himmel, wo es wilder und weniger «religiös» ist, also eine besondere Erwähnung hier der Piazza Grande!
Frage: Welche drei Filme würden Sie für die einsame Insel einpacken?
Claude Barras: «Princess Mononoke» von Hayao Miyazaki, «A Ghost Story» von David Lowery, «La jetée» von Chris Marker.
Frage: Welches ist Ihr peinlichster Lieblingsfilm? Und warum peinlich?
Claude Barras: «The Host» von Bong Joon-ho. Aber auch wenn alles in einem Blutbad endet: Der Kampf ist schön und poetisch. Den geistig Armen ergeht es dabei besser als denen, die sich für klüger halten …
Frage: Ein sträflich unterschätzter und/oder vergessener Film, für den Sie hier gerne ein bisschen missionieren würden?
Claude Barras: «J’ai perdu mon corps» von Jérémie Clapin.
Frage: Der wichtigste Rat, den Sie jungen Filmschaffenden mit auf den Weg geben würden?
Claude Barras: Widersteht den Moden, verfolgt gleichzeitig mehrere Projekte in verschiedenen Stadien, um nicht zu abhängig zu sein. Seid ausdauernd und arbeitet im Kollektiv, um euch gegenseitig zu helfen.
Claude Barras
Geboren 1973 in Sierre, machte Claude Barras eine Lehre als Tiefbauzeichner und studierte dann Illustration und Computergrafik in Lyon und anschliessend Computergrafik in Lausanne. Sein erster langer Animationsfilm, «Ma vie de courgette» (2016), gewann nach der Weltpremiere in Cannes eine ganze Reihe internationaler Preise und war auch für den Oscar nominiert. Nach grosser Festivaltour kommt demnächst sein neustes Werk in die Kinos, die rebellisch-poetische Ökofabel «Sauvages». Barras hat den Film mit einem internationalen Team im Wallis realisiert.
«Sauvages» in: Solothurn, Reithalle, So, 26. Januar 2025, 12 Uhr, und Mi, 29. Januar 2025, 15.15 Uhr. Ab 6. Februar 2025 im Kino.