Wovon träumen Sie? Sechzehn Fragen an Elie Grappe, Regisseur von «Olga».

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«Ich habe das Glück, dass ich den Beruf habe, den ich schon immer ausüben wollte»: Elie Grappe.

WOZ: Elie Grappe, was ist Ihre früheste Erinnerung ans Kino?
Elie Grappe: Ich gestehe, das war «Ein Schweinchen namens Babe». Ich muss damals etwa vier Jahre alt gewesen sein. Der Film lief in einem Kino in Lyon, und wir haben ihn mit unserer Klasse gesehen. Ich erinnere mich noch gut, wir waren so klein, dass wir Erhöhungen auf den Sitzen brauchten.

Der erste Schweizer Film, an den Sie sich erinnern können?
Das war «La Délogeuse», ein schöner Kurzfilm von Julien Rouyet. Ich sah ihn auf der Website der École cantonale d’art de Lausanne, das war vielleicht ein oder zwei Jahre, nachdem ich dort mit dem Studium angefangen hatte.

Was halten Sie für das ärgerlichste Vorurteil über Schweizer Filme?
Ich habe schon sagen hören, von Schweizer:innen, dass Schweizer Spielfilme ein bisschen langweilig und dröge seien  … Aber wenn ich mich umschaue, sehe ich Filmemacher:innen wie Carmen Jaquier, Andreas Fontana, mit seinem Spielfilmdebüt «Azor», und viele andere, die formal echte Risiken eingehen, mit vollem Körpereinsatz, und die unglaublich anspruchsvolle und aufregende Filme machen. Ganz zu schweigen von den vielen Regisseur:innen bei den Kurzfilmen. Der Spielfilm in der Schweiz hat eine strahlende Zukunft vor sich!

Was war der beglückendste Moment während der Arbeit an «Olga», Ihrem ersten langen Spielfilm?
Das war nicht so sehr ein einzelner Moment, sondern es war einfach unendlich befriedigend, jeden Tag von einem so aussergewöhnlichen Team umgeben zu sein. Die Darsteller:innen, die ihr fabelhaftes Talent zeigten und einen unglaublichen Mut an den Tag legten, die Kamerafrau Lucie Baudinaud, der erste Assistent Benoît Monney, der Script-Supervisor Louis Sé, der Produktionsleiter Nicolas Zen-Ruffinen, der Produzent Jean-Marc Fröhle und viele, viele andere: Das Vertrauen, das sie alle mir entgegenbrachten, ist unbezahlbar. Nach all den Unwägbarkeiten bei der Finanzierung des Films und später wegen der Unterbrechung durch Covid-19 war der allerletzte Drehtag, als wir in der Arena der Europameisterschaft im Kunstturnen in Stuttgart drehten, ein wunderbarer Moment.

Wann haben Sie Ihren Beruf zuletzt verflucht und aus welchem Anlass?
Ich habe das Glück, dass ich den Beruf habe, den ich schon immer ausüben wollte. Statt ihn zu verfluchen, versuche ich, meine Prägungen als männlicher, weisser, cisgender Regisseur zu hinterfragen – und mich mit meinem Blick durch die Praxis des Filmemachens so weit wie möglich dem Blick anderer zu stellen.

Wovon träumen Sie?
Von meinem nächsten Film, den ich zu schreiben angefangen habe. Er wird historisch und geografisch in einem völlig anderen Kontext angesiedelt sein als «Olga», und was das Thema angeht, fange ich bei null an. Viel Stoff zum Träumen in der Nacht.

Was macht Ihnen Angst?
Der Aufstieg reaktionärer und konservativer Ideologien in Europa. Die Präsenz der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine. Die Heuchelei der Regierenden, was den ökologischen Kollaps angeht.

Von welchem Filmemacher, von welcher Filmemacherin haben Sie am meisten gelernt, sei das persönlich oder aus seinen/ihren Filmen?
Blaise Harrison, Kelly Reichardt, Gus Van Sant, Virgil Vernier, Bruno Dumont, Philippe Grandrieux, Paul Thomas Anderson …

Bei welchem Film wären Sie wahnsinnig gerne Assistent auf dem Set gewesen?
Ich glaube nicht, dass ich die körperlichen und mentalen Fähigkeiten habe, die ein Regieassistent braucht.

Gretchenfrage: Truffaut oder Godard?
Truffaut und Godard.

Noch eine Gretchenfrage: Drehen Sie lieber auf 35 Millimeter oder digital?
«Olga» wäre auf 35 Millimeter nicht möglich gewesen. Wir wollten lange Einstellungen drehen können, die Darsteller:innen den Text oft improvisieren lassen, so oft, wie wir wollten, von vorne beginnen, um Raum zu geben für Unvorhergesehenes. Ich bin sehr glücklich mit der Digitalkamera, mit der wir gedreht haben, mit ihrer Empfindlichkeit auch bei schwachem Licht. Ich kann mir schon vorstellen, eines Tages auf Film zu drehen, aber das ist auch kein Dogma.

Kinos sind immer auch Pilgerstätten. Wo steht das schönste Kino, das Sie je besucht haben?
Das «Capitole» in Lausanne, das gerade renoviert wird, war lange Zeit mein Lieblingssaal. Vor kurzem war ich aber auch in einem Kino in den Fox-Studios in Los Angeles, einem alten und geschichtsträchtigen Ort. Und während meiner Schulzeit in Lyon habe ich viel Zeit im Institut Lumière verbracht, einer Kinemathek, die in der ehemaligen Fabrik der Gebrüder Lumière untergebracht ist.

Welche drei Filme würden Sie für die einsame Insel einpacken?
«The Taste of Tea» von Katsuhito Ishii, «Certain Women» von Kelly Reichardt und «There Will Be Blood» von Paul Thomas Anderson.

Welches ist Ihr peinlichster Lieblingsfilm? Und warum peinlich?
«The Matrix». Geschlechterpolitisch ist er zwar nicht so gut gealtert, vor allem in der Figur von Trinity, die sich völlig den Befehlen von Morpheus unterordnet und schwer verliebt ist in Neo. Aber ansonsten kann ich gut damit leben.

Ein sträflich unterschätzter und/oder vergessener Film, für den Sie hier gerne ein bisschen missionieren würden?
Ich weiss nicht, ob er vergessen ist oder eher unterschätzt wird, aber ich denke an «Disneyland, mon vieux pays natal», einen experimentellen Dokumentarfilm von Arnaud des Pallières aus dem Jahr 2001. Wie hier die verschiedenen Elemente – Musik, Offstimme und Bilder – im Schnitt miteinander verwoben sind, das hat mich in seiner Radikalität sehr beeindruckt. Es ist gleichzeitig ein sehr formbewusstes Werk und ein politischer Film, sehr roh. Wir haben auf der Filmschule viel darüber diskutiert.

Der wichtigste Rat, den Sie jungen Filmschaffenden mit auf den Weg geben würden?
Dass sie sich frühzeitig von ihren Produzent:innen für das Schreiben bezahlen lassen. Mir hat das auf eine sehr persönliche Weise die Gelegenheit gegeben, dass ich mir wirklich Zeit für das Schreiben nehmen konnte, ohne dass ich nebenbei noch etwas arbeiten musste. Und vielleicht auch, dass sie alles hinterfragen, aber ihren Intuitionen treu bleiben sollen. Und schliesslich: Habt keine Angst, es ist möglich, und es wird schön!

Elie Grappe

Nach einem Musikstudium am Konservatorium in Lyon studierte er Film an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL). «Olga» ist der erste lange Spielfilm des 27-jährigen Franzosen. Eine junge ukrainische Kunstturnerin wird darin von ihrer Mutter zum Training in die Schweiz geschickt. Das Sportdrama vor politischem Hintergrund gewann in Cannes den Drehbuchpreis der Kritikerwoche und war offizieller Kandidat der Schweiz für die Oscars.

«Olga» in: Solothurn Konzertsaal, Do, 20. Januar 2022, 21 Uhr, und Reithalle, So, 23. Januar 2022, 14.15 Uhr. Ab 10. März 2022 im Kino.

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