Agenda 2010: Reformen gegen unten

«Es wird unausweichlich sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen», mit diesen Worten kündigte Mitte März 2003, also vor exakt 20 Jahren, der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 an. «Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft», hatte Schröder bereits 2001 seine Ideologie skizziert. Die Agenda 2010 war dementsprechend sein konkreter wirtschafts- und sozialpolitischer Massnahmenkatalog. Das Reformpaket beruhte auf der Idee des «aktivierenden Sozialstaats», die aus dem marktliberalen Konzept des «Third Way» von Bill Clinton und Tony Blair hervorgegangen war.

Im Kern diente es der Neuausrichtung des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarkts: Das Arbeitslosengeld ging im Sozialgeld auf, die effektiven Zahlungen wurden gekürzt. Arbeitssuchende wurden nicht mehr nach ihren Qualitäten vermittelt – das primäre Ziel war stattdessen, sie möglichst schnell in Jobs unterzubringen. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, das Rentensystem teilweise privatisiert. Diese Massnahmen würden zu mehr Eigenverantwortung motivieren, so das Argument, woraus Innovation und Wirtschaftswachstum erwachsen würden. Das beabsichtigte Ziel: Die Arbeitslosigkeit solle überwunden, die deutsche Wirtschaft international wettbewerbsfähiger gemacht und die soziale Ungleichheit reduziert werden.

Rückblickend ist die Arbeitslosigkeit zwischen 2005 und 2023 von 11,7 Prozent auf 5,7 Prozent gesunken. Faktisch hat die Agenda 2010 aber vor allem ein grosses Heer an Beschäftigten im Niedriglohnsektor geschaffen. Staatlich gestützte Weiterbildungen und die Weiterqualifizierung der Arbeiter:innen waren hingegen nicht vorgesehen. Eine kleingeredete Ursache des heute vorherrschenden Fachkräftemangels in Deutschland.

Auch ansonsten ist die Bilanz ernüchternd. Im Länderranking der deutschen Stiftung für Familienunternehmen, das die Attraktivität der Wirtschaftsstandorte vergleicht, ist Deutschland seit 2005 von Platz neun auf Platz achtzehn abgerutscht. Die Sozialleistungsquote – also die Summe aller Sozialleistungen in Prozent des BIP – ist von 29 (2005) auf 32,5 Prozent (2021) gestiegen. Der Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen, eine Messzahl, die angibt, wie ungleich Haushaltseinkommen verteilt sind, ist in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren weiter gestiegen. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in dieser Zeit also nicht nur gefühlt weiter auseinander gegangen.

Die SPD erlebte mit der Agenda 2010 eine Zeitenwende: Es kam zum Bruch mit den Gewerkschaften und der Arbeiter:innenklasse. Der Wähler:innenanteil der Partei stürzte von 38,5 (2002) auf 20,5 Prozent (2017) ab. Gerhard Schröder seinerseits bleibt derweil seinem Spottnamen «Genosse der Bosse» treu: Kurz nach Inkrafttreten der Agenda 2010 legte er seine politischen Mandate ab und amtete fortan als Berater von Unternehmen wie Gazprom, Nordstream oder Rosneft.

Fakten, Fakten, Fakten: Der Oberleguan rückt die Dinge zurecht.