Deregulierung des Arbeitsmarkts: Der magische Schlüssel?

Nr. 35 –

Der französische Präsident Emmanuel Macron will den Arbeitsmarkt deregulieren, um die hohe Arbeitslosigkeit im Land zu bekämpfen. Doch funktioniert das? Die Forschung widerspricht.

Warum sollte die Deregulierung des Arbeitsmarkts dazu führen, dass die Arbeitslosigkeit sinkt? Obwohl fast alle Welt nur Lob für Frankreichs neuen Präsidenten Emmanuel Macron findet, dessen Regierung am Erscheinungstag dieser WOZ eine entsprechende Reform vorlegen will, kann kaum jemand eine präzise Antwort auf die Frage geben. Es regiert nicht das Wissen. Es regiert der Glaube.

Die Eckpunkte von Macrons Reform sind bereits vor einigen Wochen über die Medien an die Oberfläche gedrungen: Zum einen sollen Firmen Angestellte einfacher vor die Tür stellen können; zum anderen will Macron den einzelnen Unternehmen die Möglichkeit geben, an den Gesamtarbeitsverträgen vorbei direkt mit den Arbeitskräften Verträge abzuschliessen. Das verleiht den Firmen mehr Macht. Damit können sie unter anderem tiefere Löhne durchsetzen.

Tatsächlich gibt es durchaus Argumente, die für die Deregulierung des Arbeitsmarkts sprechen. Erstens: Von der Dampfmaschine über das elektrische Fliessband bis hin zur digitalen Welt von heute hat sich die Wirtschaft tiefgreifend gewandelt. Damit ist ihre Produktivität gestiegen und mit ihr die Wirtschaftsleistung. Ein flexibler Arbeitsmarkt zwingt die Menschen, sich diesem Wandel anzupassen, statt ihm im Weg zu stehen. Und steigt die Wirtschaftsleistung, hat das in der Vergangenheit stets neue Arbeit geschaffen.

Zweitens: Tiefere Löhne bringen Firmen dazu, neue Arbeitskräfte zu engagieren, deren Anstellung sich zuvor nicht gelohnt hätte. Ähnlich lässt sich zugunsten einer Lockerung des Kündigungsschutzes argumentieren: Wenn Unternehmen wissen, dass sie im Fall einer Krise Angestellte vor die Tür stellen können, sind sie eher bereit, zusätzliche Leute anzustellen.

Der Widerspruch der Wissenschaft

Nachdem sich Augusto Pinochet 1973 in Chile an die Macht geputscht hatte, wurden die Argumente von ihm erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg mit Panzern in die Tat umgesetzt, 1994 setzte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Rezepte mit ihrem Bericht «The Jobs Study» auf die internationale Agenda. Seither gilt die Deregulierung des Arbeitsmarkts als sichere Waffe gegen die Arbeitslosigkeit, die seit Anfang der siebziger Jahre in den Industriestaaten stark gestiegen ist.

Als Beweis für die Stärke dieser Waffe wird meistens Deutschland zitiert, das nach der Wiedervereinigung in den neunziger Jahren den Arbeitsmarkt zu deregulieren begann – ein Projekt, dem Anfang der nuller Jahre der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seiner «Agenda 2010» die Krone aufsetzte. Seit 2005 ist die Arbeitslosigkeit von elf auf vier Prozent gefallen.

Dass sich der Glaube an die Deregulierung des Arbeitsmarkts so eisern hält, ist dennoch erstaunlich: Denn die Forschung sagt etwas ganz anderes – und zwar nicht nur irgendwelche ausgewählten linken Studien. Die Weltbank hat 2015 in einem Bericht die wichtigsten statistischen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre ausgewertet und gelangt zum Schluss, dass die Auswirkungen von Arbeitsmarktderegulierungen auf die Arbeitslosigkeit inexistent oder allenfalls «bescheiden» sind – teils positiv, teils gar negativ. «Alles in allem», so ihr Fazit, «liegt in den Arbeitsgesetzen und deren Institutionen weder das grosse Hindernis noch der magische Schlüssel zur Schaffung von guten Jobs.»

Die Erklärung dafür: Es gibt genauso gute Argumente, die gegen eine Deregulierung sprechen. Erstens bringen ein starker Kündigungsschutz und hohe Löhne Firmen dazu, mehr in Innovation und in die Ausbildung ihrer Angestellten zu investieren, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Zudem sind Angestellte mit sicherem Job und gutem Lohn motivierter und eher bereit, sich neues Wissen anzueignen. Beides macht die Wirtschaft produktiver, was Arbeit schaffen kann. Oder andersherum: Ein schwacher Kündigungsschutz und tiefe Löhne können Jobs vernichten.

Zweitens: Die Deregulierung des Arbeitsmarkts verstärkt die wirtschaftliche Ungleichheit, da die Arbeitskräfte damit den Firmen ausgeliefert werden. Unter anderem führt der technologische Fortschritt dazu, dass Firmen vor allem hoch qualifizierte Arbeitskräfte nachfragen, während die Nachfrage nach tiefer qualifizierten – die einfacher durch Maschinen ersetzbar sind – sinkt. Damit sinken ihre Löhne. Das Ergebnis: Die Leute kaufen bei den Firmen weniger ein, womit diese weniger Arbeitskräfte brauchen.

Warum aber hat es in Deutschland trotzdem geklappt? Zuerst einmal ist festzuhalten: Entgegen einer verbreiteten Annahme hat die Deregulierung des Arbeitsmarkts Deutschland nicht produktiver als Frankreich gemacht. Wie seit Jahrzehnten produziert eine deutsche Arbeitskraft auch heute noch etwa den gleichen ökonomischen Wert wie eine französische. In Deutschland sind es 59,5, in Frankreich 60 US-Dollar pro Stunde. Kurz: Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland nicht etwa gesunken, weil die Wirtschaft produktiver geworden wäre.

Einkommensungleichheit: Die Grafik zeigt den Prozentanteil, den die zehn Prozent Best­verdienenden in Deutschland beziehungsweise Frankreich am gesamten jährlichen Lohn- und Kapitaleinkommen erhalten. Quelle: www.wid.world

Zum einen ist die Arbeitslosigkeit gesunken, weil durch die Deregulierung die bestehende Arbeitsmenge auf mehr Schultern verteilt wurde: Viele, die zuvor voll arbeiteten, arbeiten heute Teilzeit. Entsprechend ist die Anzahl Stunden, die eine Arbeitskraft im Schnitt pro Jahr leistet, seit 2005 um 43 auf 1368 Stunden gefallen, in Frankreich um lediglich 25 auf 1482 Stunden. Zum andern hat die Deregulierung tatsächlich zu tieferen Löhnen geführt, womit die Firmen zusätzlich Leute angestellt haben. Es ist unbestritten: Die Ungleichheit hat in Deutschland stark zugenommen (vgl. Grafik), nirgends in Europa schwächeln die normalen Löhne so stark.

Deutschland exportiert Arbeitslose

Bleibt die Frage, warum das nicht zu einem Einbruch der wirtschaftlichen Nachfrage und so zur Vernichtung von Jobs geführt hat. Tatsächlich ist die inländische Nachfrage der Privathaushalte gesunken (zwischen 2005 und 2015 von 58 auf 54 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP). Deutschland kompensiert dies jedoch, indem es seit Anfang der nuller Jahre immer mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland exportiert – viel mehr, als es von dort importiert. Letztes Jahr betrug dieser sogenannte Überschuss 261 Milliarden Euro, das sind 8,3 Prozent des BIP.

Tatsächlich hat Deutschland damit den inländischen Rückgang der wirtschaftlichen Nachfrage nicht nur kompensiert; es hat sich mit seinen tiefen Löhnen einen internationalen Konkurrenzvorteil verschafft, der zu einem riesigen Exportboom führt, der den Nachfragerückgang weit übertrifft. Neben der Verteilung der Arbeit auf mehr Schultern und den zusätzlichen Stellen aufgrund der tieferen Löhne ist dieser Exportboom der dritte – und wichtigste – Grund, warum mit der Deregulierung die Arbeitslosigkeit so stark gesunken ist.

Doch es gibt ein Problem mit dieser Exportstrategie. Und zwar ein sehr grosses. Deutschland kann nur deshalb Überschüsse machen, weil unter anderem Frankreich Exportdefizite schreibt. Der Überschuss bedeutet entweder, dass Deutschland zu wenig aus Frankreich importiert, was dort zu Arbeitslosigkeit führt – oder dass die FranzösInnen zu viel billigere Produkte aus Deutschland kaufen statt aus Frankreich, was ebenfalls Arbeitslose schafft. Kurz: Deutschland hat einen Grossteil seiner Arbeitslosigkeit nach Frankreich exportiert.

Doch das ist nicht das einzige Problem: Die Deregulierung des Arbeitsmarkts hat dazu geführt, dass sich in einem der reichsten Länder der Welt ein immer grösserer Niedriglohnsektor aufbaut. 2013 arbeiteten laut der Uni Duisburg-Essen 8,1 Millionen Beschäftigte für einen Lohn unterhalb der Niedriglohngrenze von 9,30 Euro – Pizzakuriere, Reinigungskräfte, McDonalds-VerkäuferInnen, Callcenteragenten oder Pflegerinnen. Das ist jede und jeder vierte arbeitende Deutsche.

Soll dies das Vorbild für die Zukunft sein?

Statt sich auf die Arbeitslosigkeit zu versteifen, sollte man vielmehr fragen, wie innerhalb des Kapitalismus die Wirtschaftsproduktion besser verteilt werden kann, die aufgrund des technischen Fortschritts jährlich grösser wird – die Arbeitslosen sind lediglich die Extremfälle, die gar keinen Lohn erhalten. Heute geht grob ein Drittel dieser Produktion als Einkommen an die KapitalbesitzerInnen, zwei Drittel als Lohn an die Arbeitskräfte – davon wiederum ein Drittel an die oberen zehn Prozent, der Rest an die übrigen neunzig. In Deutschland sind die Löhne tief, dafür erhalten alle etwas; in Frankreich sind sie höher, dafür sehen zehn Prozent Arbeitslose gar nichts.

Einerseits kann die öffentliche Hand dafür sorgen, dass der Markt die Einkommen besser verteilt. Neben der Durchsetzung von höheren Löhnen besteht ein zweiter Weg darin, die Ausbildung tief qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern: Damit steigen ihre Löhne – wie auch jene von anderen tiefer Qualifizierten, weil sich ihr Arbeitskraftangebot verknappt. Ein dritter Weg besteht darin, das Arbeitsangebot zu beschränken – durch kürzere Arbeitszeiten oder ein tieferes Pensionsalter. Damit wird nicht nur die Arbeit besser auf die Köpfe verteilt, die Verknappung des Arbeitsangebots führt auch zu höheren Löhnen.

Andererseits kann die öffentliche Hand selber die Wirtschaftsproduktion stärker umverteilen. Ein Weg besteht darin, das Kapital besser zu verteilen, von dem die zehn Prozent Reichsten oft weit über die Hälfte besitzen – etwa durch Erbschafts- oder Kapitalgewinnsteuern. Damit erhielten alle neben dem Lohn auch etwas Kapitaleinkommen. Ein zweiter Weg besteht darin, ein grösseres Stück der jährlichen Wirtschaftsproduktion umzuverteilen. Neben Arbeitslosengeldern oder Renten etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Als Erstes jedoch müsste sich Präsident Macron die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vorknöpfen: Will er die Arbeitslosigkeit senken, muss er dafür sorgen, dass Deutschland seine Löhne hebt. Mit seinem Plan, Deutschland nachzuahmen, wird er Frankreichs Arbeitslosigkeit lediglich in andere Länder exportieren und die Armut im eigenen Land verschärfen.