Was weiter geschah: Neue Fragen zum Réduit
2024 wurde Henri Guisan anlässlich seines 150. Geburtstags gross gefeiert – unter anderem mit einem neuen Porträt auf den Toren der Gotthardfestung. Mit diesem Denkmal stieg auch Erich Keller in seine Serie «Im Réduit-Staat» in der WOZ ein. Im Rahmen eines Forschungsauftrags über die Geschichte des Kantons Uri während des Zweiten Weltkriegs war der Historiker auf Dokumente gestossen, die ein bislang unbekanntes Bild des Generals wie auch des damaligen Bundesrats zeigen und die eigentliche Strategie hinter ihrer Réduit-Idee offenlegen: Geplant war ein Rumpfstaat im Alpengebiet – ohne Zugang für die Zivilbevölkerung des Mittellands. Gegen diese wäre die Armee im Fall einer Invasion gar mit Waffengewalt vorgegangen.
Die neuen Erkenntnisse sind nun auch im Bundeshaus angekommen: In einer Interpellation fordert SP-Nationalrat Fabian Molina eine Aufarbeitung. Mit der Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission im Jahr 1996 habe der Bund zwar einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs geleistet, schreibt Molina. «Zahlreiche Aspekte der damaligen offiziellen Schweizer Politik blieben jedoch unerforscht, wurden nie offiziell aufgearbeitet, und das begangene Unrecht wurde niemals offiziell anerkannt.»
Basierend auf Kellers Recherche, hat Molina mehrere Fragen formuliert: Welche Dokumente zur Réduit-Strategie sind heute vollständig zugänglich, und existieren noch gesperrte oder unerschlossene Aktenbestände? Plant der Bundesrat eine unabhängige Untersuchung der damaligen Entscheidungsprozesse und von deren Folgen? Wie beurteilt er die damalige Priorisierung militärischer Interessen gegenüber dem Schutz der Bevölkerung, und welche Schritte erwägt er, um sie in Erinnerungskultur, Bildung und Öffentlichkeit aufzuarbeiten? Welche Lehren zieht er daraus für die heutige Sicherheits- und Bevölkerungsschutzpolitik? Und: Wie ist heute sichergestellt, dass die Zivilbevölkerung im Krisen- und Konfliktfall oberste Priorität hat und keine vergleichbaren Ausschlussmechanismen existieren?
Auf die Antworten des Bundesrats darf man gespannt sein.
Nachtrag zur Serie «Im Réduit-Staat» (1–3) in WOZ Nrn. 47/25, 48/25, 49/25.