Im Réduit-Staat (Teil 2): Die «totale Landes­verteidigung»

Nr. 48 –

Ab 1941 wird das Réduit zu einer hochmilitarisierten Zone ausgebaut, die im Kriegsfall auch eine staatliche Funktion übernehmen soll. Der Bundesrat unterstützt die Pläne. Für das Mittelland hingegen wird hinter dem Rücken der Bevölkerung die Zerstörung der Infrastruktur, der Industrie und der öffentlichen Verwaltung vorbereitet.

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Collage von Marcel Bamert: historische Fotos, Ausschnitte aus militärischen Karten und ein Zitat
Geheime «Weisungen an die bürgerlichen Behörden für den Kriegsfall» von Bundesrat Karl Kobelt, 13. April 1942. Quelle: Bundesarchiv; Fotos: Keystone, ETH-Bildarchiv, Bundesarchiv

Im Dezember 1941 wendet sich Bundesrat Karl Kobelt an General Henri Guisan. Er will von ihm wissen, «ob und inwieweit im Kriegsfall im besetzten Gebiet die Verwaltung aufrechtzuerhalten sei». Der St. Galler Freisinnige, seit Jahresbeginn Vorsteher des Militärdepartements, ist der Ansicht, dass die öffentliche Verwaltung grösstenteils eingestellt werden müsste. Anders als sein zögerlicher Vorgänger Rudolf Minger schaltet er sich mit klaren Vorstellungen in die Réduit-Strategie ein. Der Ingenieur ist ein Mann der Zahlen.

Generalstabschef Jakob Huber, Guisans rechte Hand, nimmt die Anfrage auf und beruft für den 22. Dezember 1941 eine Sitzung ein. General Guisan setzt derweil mit einem Schreiben an den Bundesrat Druck auf: «Es wäre paradox und mit dem Gedanken der Verteidigung bis zum Letzten nicht zu vereinbaren, wenn in einem Teil des Landes die Armee kämpfte, während die Behörden im andern Teil dem Gegner dienen.»

Die Konferenz von Interlaken

Wenige Tage später treffen sich die Herren vom Generalstab im Hotel Metropole in Interlaken. Das Kriegsgeschehen hat sich nach dem brenzligen Sommer 1940 längst von der Schweizer Grenze wegbewegt. Nun ist Frankreich zweigeteilt, Hitlers «Festung Europa» nähert sich ihrer Verwirklichung, und die aussenwirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz mit NS-Deutschland sind auf einem Höhepunkt angelangt. Insbesondere die Rüstungsgeschäfte. Um diese zu ermöglichen, gewährt der Bund dem NS-Staat Clearingkredite in der Höhe von einer Milliarde Schweizer Franken. Dank des staatlich garantierten Verrechnungsverfahrens streicht vor allem der Waffenindustrielle Emil G. Bührle astronomische Gewinne ein.

In Interlaken, wo sich der Kommandoposten der Armee befindet, sind alle Hotels und Pensionen durch das Militär belegt. Anfänglich gab es Bedenken, die Armeeführung hierhin zu verlegen. Im Kurort würden bekanntlich «viele Individuen ohne rechte Existenz» leben, verbittert und offen für extreme politische Ideologien. Andererseits sprach die Lage fernab der Grenze und innerhalb des Réduits für diesen Standort. Um auf Nummer sicher zu gehen, wurde eine intensive Überwachung aller Telefonanschlüsse beschlossen – und beim nahen Meiringen in Windeseile ein Militärflugplatz gebaut.

Die Sitzung im «Metropole» dauert drei Stunden. Das geheime Protokoll dokumentiert den Moment, da hochrangige Militärs und das Militärdepartement offen wie nie zuvor über das Schicksal der Schweizer Bevölkerung im Kriegsfall berieten. Aus der militärischen Réduit-Strategie vom Sommer 1940 wurde die Planung eines Réduit-Staats.

Es ist, als ob sich die Männer über zwei Staatsgebilde unterhielten, von denen das eine dem anderen noch unsichtbar eingeschrieben war. Die Themen betrafen die Schweiz jener Zeit – ihre Gesetze, Institutionen, Verbände, Parteien, die Wirtschaft, die Menschen. Doch die Militärs dachten sich diese Schweiz von aussen. Wie ein Gebiet, das seinen Zweck nicht mehr erfüllen kann und darum ersetzt werden muss, um Zeit zu gewinnen: im Tausch gegen Raum, wie es der Stratege Samuel Gonard formuliert hatte.

Die zehn Männer aus dem Generalstab sind sich einig: Die Armee hätte einer deutschen Invasion nichts entgegenzusetzen. Während landauf, landab die Propaganda der wehrhaften Schweiz verkündet wird, sehen sie die Situation komplett anders. «Unter den gegenwärtigen Verhältnissen wird der grösste Teil unseres Landes besetzt werden», führt Generalstabschef Huber aus. Eine zivile Verwaltung würde den Feind nur unterstützen – «so richtet sie sich gegen die eigene Sache, ein Zustand, der die totale Landesverteidigung ausschliesst».

Hubers Folgerung: «Im Vorland des Réduits muss Chaos herrschen und der Gegner mag selber versuchen, wie er mit den Schwierigkeiten fertig wird. Seine Bemühungen sind durch passiven Widerstand und Sabotage zu vereiteln.» Der Kampf im «Vorgelände», also dem Mittelland, werde so heftig sein, dass von Ordnung keine Rede mehr sein könne. Und überhaupt: Wolle man auf die Bevölkerung Rücksicht nehmen, müsste die ganze Réduit-Strategie überdacht werden.

Hubers Vorstellungen einer «totalen Landesverteidigung» finden weitgehend Unterstützung. Zwar wollen nicht alle Anwesenden die gesamte zivile Verwaltung ausschalten. Die Einstellung der Versorgung mit Gas, Elektrizität und Wasser, des Schulwesens oder der Gemeindeverwaltungen würden dem Gegner nicht schaden, wohl aber der Bevölkerung, gibt eine Minderheit zu bedenken. Die höhere Verwaltung könne aber durchaus eingestellt werden. Auf lokaler Ebene könne sie bestehen bleiben – «es ist zugegeben, dass die Grenzziehung hier schwierig ist», bemerkt Oberst Dietrich Schindler, Rechtsberater des Bundesrats und Strafrechtsprofessor in Zürich.

Bundesrat Kobelt treibt seine Pläne des Verwaltungsabbaus im Falle einer Invasion weiter. Er weist jedes Departement an, zu prüfen, welche Tätigkeiten im besetzten Gebiet aufrechterhalten werden sollen. Danach müsse der Bundesrat entscheiden, wie weit die öffentliche Verwaltung bestehen bleibe. Ob man Kobelts Wunsch nachkam, ist unbekannt. Einzig eine Reaktion findet sich überliefert: Das Politische Departement (heute: Departement für auswärtige Angelegenheiten) liess wissen, es werde sich nicht zu diesen Plänen äussern.

Die Konsequenzen der Réduit-Strategie hätten besonders die Frauen zu tragen gehabt. In der vom sicheren Réduit ausgeschlossenen Zivilbevölkerung wären sie in der Mehrheit gewesen. Zwar wurden auch sie, wie die Historikerin Beatrix Mesmer schreibt, in die militärische Landesverteidigung einbezogen. Doch insgesamt zementierte der Zweite Weltkrieg die herrschende Geschlechterordnung. Armee und Nation blieben männlich definiert.

Karl Schmid, Oberst im Generalstab und ETH-Professor, wendet sich im August 1943 in einem Vortrag an den Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverband. Was man früher als Evakuation bezeichnet habe, sei doch in Wahrheit nur eine Flucht vor einem Schicksal, dem niemand entgehen könne. «Die Frauen unseres Mittellandes müssen sehr Schwerem ins Angesicht sehen lernen: Die Väter werden fern der engern Heimat kämpfen, und diese Heimat selbst, das Haus, die Mutter, die Kinder, sie werden vielleicht in die Hand des Feindes fallen, während der eigentliche Beschützer des Hauses und der Familie ganz anderswo seine Soldatenpflicht erfüllt. Für ihn ist das noch schwerer.» Das Territorium werde nicht verteidigt werden können – wohl aber das Vaterland, das selbst dann nicht infrage gestellt sei, «wenn auch Dreiviertel unseres Bodens schon die fremden Soldaten tragen müssen».

Bis heute ist die Vorstellung verbreitet, auch in der Forschung, die Öffentlichkeit sei über die Réduit-Strategie informiert gewesen und habe sie unterstützt. 2024 fragt ein Journalist der «Neuen Zürcher Zeitung» den emeritierten Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis, was das Réduit für die zurückgelassene Bevölkerung eigentlich bedeutet hätte. Natürlich habe es Diskussionen über die Sinnhaftigkeit dieses Plans gegeben, erklärt Kreis, unter Offizieren und auch in der Bevölkerung. Aber der Plan sei richtig gewesen: «Wer die Schweiz besetzen will, muss einen hohen Eintrittspreis bezahlen» – und hätte die Zerstörung der Gotthardtransversale in Kauf nehmen müssen.

Nun – den «Eintrittspreis» hätte die Bevölkerung bezahlt. Und dass die Réduit-Strategie abschreckend gewirkt hat, darf bezweifelt werden. Das militärische Konzept der Abschreckung – auch Dissuasion genannt – ist erst im Kalten Krieg entstanden. Gegen Kernwaffen, das hatten die verheerenden Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945 gezeigt, war man weitgehend schutzlos. Mit ihrem Einsatz liess sich wirksam drohen. Welche abschreckende Wirkung aber hätte das Réduit haben sollen? Zumal die Achsenmächte mit dem Brennerpass eine leistungsfähige Alternative zur Gotthardtransversale kontrollierten – und wirtschaftliche Überlegungen den radikalen Kriegszielen des NS-Staates nie im Weg standen.

Hochtourige Propagandamaschine

Tatsächlich wurde die Réduit-Strategie von Beginn an hinter dem Rücken der Bevölkerung vorbereitet und umgesetzt. Ein komplexes System der Geheimhaltung verbarg den Plan – auch vor den Behörden, der Verwaltung, den Kantonen und Gemeinden. Und auch vor der deutschen Spionage. Der Rückzug der Truppen in die Berge war kein Geheimnis. Aber was würde das bedeuten? 1941 notiert Bernard Barbey, Chef des persönlichen Stabs von General Guisan, in sein Tagebuch: «Schlechte Stimmung bei den mobilisierten Truppen, noch schlechtere bei der Bevölkerung, die anfängt, sich ihre Gedanken zu machen.»

In der Presse taucht der Begriff «Réduit» erst im April 1943 auf. Anlass ist die Broschüre «Das Reduit – Wie unsere Armee die Schweiz verteidigt», geschrieben von Oberst Louis Couchepin. Endlich lüfte jemand jene Geheimnisse, die «eigentlich längst Gemeingut jedes Schweizers hätten werden sollen», freute sich die «Neue Zürcher Zeitung». Jetzt sei die Zeit endlich reif, «die Wortkargheit, ja völlige Verschwiegenheit der zuständigen Behörden als einen Irrtum zu bezeichnen». Selbst den Begriff «Réduit» musste die NZZ erst erklären, so wenig geläufig war er beinahe drei Jahre nach seinem ersten Auftauchen in den Generalstabsplänen. Damit gemeint sei die Zitadelle in einer Festung. «Die Festung ist unser ganzes Land bis hinaus an die Grenzpfähle, die Zitadelle beginnt irgendwo im Hinterland.»

Der Veröffentlichungszeitpunkt war gut gewählt. Die Niederlage der Wehrmacht bei der Schlacht um Stalingrad wurde als Wendepunkt des Kriegsgeschehens interpretiert und die baldige Landung der Alliierten in Süditalien allgemein erwartet. In der Schweiz führte die neue Situation noch einmal zu einer gewissen Nervosität bei der Armeeführung und im Bundesrat. Wie würden sich die in Süd- und Südosteuropa ausbrechenden Kämpfe auf das Land auswirken? Der Untergang des NS-Staats und seiner Verbündeten schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Couchepins Propagandaschrift findet reissenden Absatz. Ihr Autor, ein Bundesrichter aus der Lausanner Bourgeoisie, Offizier im Generalstab, dürfte über die tatsächlichen Réduit-Pläne wohlinformiert gewesen sein. In seiner Broschüre aber verdreht er die Tatsachen. Die Befürchtung, dass eine Besatzungsmacht Gewalt gegen die Schweizer Bevölkerung ausübe, um den Zugang zum Réduit zu erpressen, sei völlig unbegründet. Es gebe keinen militärischen Führer, der so barbarisch sei, mit der Zerstörung von Städten wie Zürich, Basel oder Genf zu drohen. Und selbst wenn, «dann wären unsere Soldaten nur so entschlossener, umso erbitterter, umso gieriger, Rache zu nehmen». Man müsse das Ganze sehen. Der moderne Krieg kenne keine Unterscheidung mehr zwischen Front und Hinterland. Darum bestehe das Réduit aus einzelnen Zellen, von denen jede ihre eigenen Munitionslager und Nahrungsmittelvorräte besitze. Wie in einem Bienenstock – jede Wabe sei eine Zitadelle für sich.

Auf Hochtouren läuft auch die Propagandamaschine von «Heer und Haus», einer Sektion des Militärdepartements zur «Aufklärung der Soldaten». Im November 1939 ins Leben gerufen, wird sie 1941 in den Dienst des Réduits gestellt, um «den Geist des Defaitismus in der Armee und im Volk zu bekämpfen». Heer und Haus produziert eine Flut von Artikeln und Broschüren und organisiert Tausende von «Informationsveranstaltungen» im ganzen Land. Das Ergebnis: eine Militarisierung der öffentlichen Sphäre, wie es sie in der Schweiz nie gegeben hatte.

Zugleich dient die Sektion als Sonde, um die Stimmung in der Bevölkerung zu messen. Ein Netz von rund 7000 Korrespondentinnen und Korrespondenten meldet in die Zentrale, wie es um den «Wehrwillen» und die «Opferbereitschaft» steht. Wie engmaschig die Beobachtung ist, lässt sich im Bundesarchiv überprüfen. Im aargauischen Kaiserstuhl etwa, über eine kurze Rheinbrücke direkt mit Deutschland verbunden, findet im Juni 1943 eine Veranstaltung mit dem Militärdepartementsvorsteher Kobelt statt. Zu der Zeit also, da das Réduit erstmals als Begriff durch die Presse geht. Kobelts Rede sei kritisiert worden, meldet ein Korrespondent – insbesondere die Anweisung, das «Verlassen der Heimstätten ohne besondern militärischen Befehl» sei der Zivilbevölkerung verboten. Ein Steinbrucharbeiter, Name und Wohnort finden sich in den Akten, habe daraufhin bemerkt, «dass die grossen Herren wohl die Ersten wären, die sich nicht an diese Vorschrift halten würden».

Der banale Vorfall wird bis zum Armeekommando hochgereicht, wo sich die für präventive Geheimhaltungsmassnahmen und Spionageabwehr zuständige Abteilung des Nachrichtendienstes der Sache annimmt. Kaiserstuhl eigne sich für eine «Behandlung durch die Sektion Heer und Haus» – eine gezielte propagandistische Aktion vor Ort.

Ein staatliches Notgebilde

Was in Interlaken entworfen wurde, tritt immer deutlicher hervor: dass das Réduit nicht bloss der militärischen Abwehr dienen, sondern die Funktion eines staatlichen Notgebildes annehmen soll – eines Rumpfstaats, von dem aus der Bundesrat mit dem NS-Regime verhandeln könnte.

Im Sommer 1942 bespricht der Bundesrat auf Antrag des Militärdepartements die Behördenordnung im Réduit. Bei einer Kriegsmobilmachung werde sich der Bundesrat in die Kernzone zurückziehen, begleitet von einem kleinen Stab von Mitarbeitern. Seine rechtliche Stellung als Bundesregierung werde sich dadurch nicht verändern, die Regierungsgewalt sich jedoch auf die Kernzone – das Réduit – beschränken. Auch dort aber werde «kein Raum mehr sein für die uneingeschränkte Fortführung der vom Bundesrat heute ausgeübten Verwaltungstätigkeit», steht im als vertraulich deklarierten Protokoll. «Dagegen wird der Bundesrat die politische Leitung und insbesondere die aussenpolitischen Belange – und zwar diese ausschliesslich – wahrzunehmen haben.» Die Regierungen der Kantone innerhalb des Réduits und deren Behörden wie Justiz, Polizei, Schul- oder Armenwesen könnten erhalten bleiben. Derweil Kantone, von denen nur ein Teil im Réduit liege, nur Regierungskommissäre in die Kernzone delegieren dürften. Erweitert hingegen würden die Kompetenzen des Generals, der neu auch polizeiliche Befugnisse habe. Mit einer parlamentarischen Demokratie hätte dieses Gebilde nichts mehr zu tun gehabt.

Der Gesamtbundesrat stimmt den Anträgen des Militärdepartements am 3. Juli 1942 zu. Für den Aufbau des Réduit-Staats werden der Bevölkerungsmehrheit im «Verzögerungsraum» planerisch, aber auch in Vorbereitungshandlungen die Ressourcen entzogen. Kobelt erklärt seinen Bundesratskollegen: Das Réduit liege in einer ressourcenarmen Gegend und müsse vollkommen abgeschottet werden. Darum «dürfen schon wegen der Verpflegungsschwierigkeiten keine unnützen Esser aufgenommen werden». Das hatte zuvor auch der Generalstab so gesehen. Auf Nachfrage eines hohen Militärs, ob Truppenkommandanten Familie und Freunde ins Réduit mitnehmen dürften, antwortete Generalstabschef Huber: Nein, das sei nicht gestattet.

Laut dem damaligen Kriegsernährungsamt wäre eine sechsmonatige Versorgung der im Réduit lebenden Bevölkerung und der Truppen möglich gewesen. Schon Ende 1941 waren die Vorräte angelegt – im Mittelland wurde erst Ende 1943 mit dem Aufbau von Vorratslagern begonnen. Die Versorgung der dortigen Bevölkerung sei wegen der Verwundbarkeit dieser Gebiete schwierig. «Umso wichtiger waren die Vorbereitungen der Sicherungsmassnahmen jenes Teils des Gebietes, der als Réduit verteidigt werden sollte», wie es im erst 1950 veröffentlichten Kriegswirtschaftsbericht des Volkswirtschaftsdepartements offen heisst.

Als vertraulich eingestufte Bundesratsprotokolle zeigen: Noch im Juni 1943 wurde neu festgelegt, welche Güter der Zivilbevölkerung hinterlassen werden sollten und welche nicht. Alle grossen Depots von Nahrungsmitteln oder Treibstoffen ausserhalb des Réduits müssten rechtzeitig zerstört werden. Von der Zerstörung von Getreide- und Mehlvorräten jedoch soll aus «psychologischen Gründen» abgesehen werden: Die «Vernichtung des ‹täglichen Brotes› würde von der Bevölkerung kaum verstanden». Das gelte auch für Kartoffeln, nicht aber für Käselager – deren Vernichtung allerdings aus technischen Gründen kaum möglich sei. All diese Richtlinien seien «geheim zu halten und weder in der eidgenössischen Gesetzsammlung noch im Schweizerischen Handelsamtsblatt zu veröffentlichen» und «auch nicht in allfällige Berichte des Bundesrates an die Bundesversammlung aufzunehmen».

Vernichtung der Industrie?

Es wird an alles gedacht. Im Réduit werden für Hunderte Millionen Franken militärische Bauten erstellt, Lagerstätten angelegt und Militärflugplätze gebaut, bombensichere Bäckereien installiert, die Goldreserven der Nationalbank bei Andermatt in einem Stollen versenkt und eine gut getarnte Radiosendeanlage für den Betrieb vorbereitet. Die für die Zivilbevölkerung bestimmte Reserve importierter Arzneimittel wird auf fünf Grosslager aufgeteilt, die alle im Réduit liegen. Verwaltet wird sie vom Volkswirtschaftsdepartement und dem Armeeapotheker. Sie bestimmen, dass für die Menschen ausserhalb des Réduits rund einhundert Präparate nur dann erhältlich sind, wenn die Lage es zulässt und die Armee einer Herausgabe zustimmt.

Die Listen der unbrauchbar zu machenden Betriebe und Infrastrukturen des Mittellands werden immer länger. So lang, dass der Verein der Schweizerischen Maschinenindustriellen im Februar 1943 beim Volkswirtschaftsdepartement protestiert. Es könne nicht sein, dass das Armeekommando die «völlige Vernichtung der schweizerischen Industrie» plane. Der Bundesrat zeigt sich hin- und hergerissen. Einerseits beharrt er darauf, dass die Zerstörung von Betrieben und Gütern ein «wichtiges Kampfmittel der Landesverteidigung» sei. Andererseits, erwägt er, wäre der wirtschaftliche Langzeitschaden wohl immens – die Arbeiter:innen könnten deportiert und im Heimatland des Angreifers eingesetzt werden, was die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Industrie empfindlich treffen und zu schweren «sozialen Spannungen» führen würde. Weiter sei in Betracht zu ziehen, so der Gesamtbundesrat, «dass im Kriegsfall der Angreifer voraussichtlich ohnehin mit massiven Luftangriffen unsere Produktionsanlagen und Warenvorräte zerstören wird – Aktionen, mit denen er Wut und Hass unserer Bevölkerung auf sich lädt, aber auch ihren Widerstandswillen stärkt». Dies sei «vielleicht besser, als wenn wir selber unsere Betriebe und Vorräte zerstören würden».

Auch im Mai 1945, als in Europa der Krieg endet, ist das Réduit noch nicht fertig gebaut. Bis in die 1990er Jahre wird es stetig modernisiert. Doch die Vorstellungen eines radikalen Ressourcenmanagements, das das ganze Mittelland und einen Grossteil der Bevölkerung aufgibt, um einen Rumpfstaat in die europäische Nachkriegsordnung hineinzuretten, beginnen sich bald nach dem Krieg aufzulösen.

Mit dem toxischen Erbe des Réduits aber leben wir noch immer.

Quellenauswahl:

Schweizerisches Bundesarchiv: E27#1000/721#12 861* (Weisungen an die bürgerlichen Behörden für den Kriegsfall)

Amtsdruckschriften im Bundesarchiv: www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch (diverse Bundesratsprotokolle)

In der nächsten Ausgabe: Auf Befehl Guisans wird im Kanton Uri der Kampf mit chemischen Waffen geübt – es kommt zur Umweltkatastrophe. Und heute noch schlummert in Seen und Stollen das Erbe des Réduits: Giftstoffe und gefährliche Munitionsreste.

Nachtrag vom 18. Dezember 2025: Neue Fragen zum Réduit

2024 wurde Henri Guisan anlässlich seines 150. Geburtstags gross gefeiert – unter anderem mit einem neuen Porträt auf den Toren der Gotthardfestung. Mit diesem Denkmal stieg auch Erich Keller in seine Serie «Im Réduit-Staat» in der WOZ ein. Im Rahmen eines Forschungsauftrags über die Geschichte des Kantons Uri während des Zweiten Weltkriegs war der Historiker auf Dokumente gestossen, die ein bislang unbekanntes Bild des Generals wie auch des damaligen Bundesrats zeigen und die eigentliche Strategie hinter ihrer Réduit-Idee offenlegen: Geplant war ein Rumpfstaat im Alpengebiet – ohne Zugang für die Zivilbevölkerung des Mittellands. Gegen diese wäre die Armee im Fall einer Invasion gar mit Waffengewalt vorgegangen.

Die neuen Erkenntnisse sind nun auch im Bundeshaus angekommen: In einer Interpellation fordert SP-Nationalrat Fabian Molina eine Aufarbeitung. Mit der Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission im Jahr 1996 habe der Bund zwar einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs geleistet, schreibt Molina. «Zahlreiche Aspekte der damaligen offiziellen Schweizer Politik blieben jedoch unerforscht, wurden nie offiziell aufgearbeitet, und das begangene Unrecht wurde niemals offiziell anerkannt.»

Basierend auf Kellers Recherche, hat Molina mehrere Fragen formuliert: Welche Dokumente zur Réduit-Strategie sind heute vollständig zugänglich, und existieren noch gesperrte oder unerschlossene Aktenbestände? Plant der Bundesrat eine unabhängige Untersuchung der damaligen Entscheidungsprozesse und von deren Folgen? Wie beurteilt er die damalige Priorisierung militärischer Interessen gegenüber dem Schutz der Bevölkerung, und welche Schritte erwägt er, um sie in Erinnerungskultur, Bildung und Öffentlichkeit aufzuarbeiten? Welche Lehren zieht er daraus für die heutige Sicherheits- und Bevölkerungsschutzpolitik? Und: Wie ist heute sichergestellt, dass die Zivilbevölkerung im Krisen- und Konfliktfall oberste Priorität hat und keine vergleichbaren Ausschlussmechanismen existieren?

Auf die Antworten des Bundesrats darf man gespannt sein.