Chinesische Deutungen: Der umgekehrte Nixon

Nr. 12 –

Die US-Regierung nähert sich dem russischen Regime an. Das weckt in der Volksrepublik China Erinnerungen an eine geopolitische Weichenstellung vor fünfzig Jahren.

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Über die öffentliche Zurechtweisung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Weissen Haus am 28. Februar durch US-Präsident Donald Trump wurde weltweit berichtet. Auch in der Volksrepublik China löste der medial inszenierte Skandal eine Welle von Kommentaren in sozialen Netzwerken aus. Als die US-Botschaft in Peking auf ihrem chinesischen WeChat-Kanal eine Stellungnahme Trumps zur Auseinandersetzung postete, kritisierten in den Kommentaren Tausende User:innen den US-Präsidenten, machten sich über ihn lustig, nannten ihn einen ­«Rüpel» oder «Agenten russischer Interessen».

Hinter der Kritik stehen vermutlich chinesische «Liberale», wie ein Teil der bürgerlich geprägten Opposition im Land bezeichnet wird. Sie sehen den Kapitalismus und die Demokratie in den USA oder im «Westen» als Vorbild für China und sind nun verstört ob des autoritären Zugs von Trump, seines theatralen Bruchs mit der EU und der Anbiederung an die russische Regierung.

Strategie der Eindämmung

Chinesische «Liberale» mögen im autoritären Verhalten der Trump-Regierung Parallelen zur eigenen unter Xi Jinping sehen. Das geopolitische Manöver der US-Regierung, ihre Annäherung an die russische und ihre Infragestellung der transatlantischen Allianz erinnern derweil an eine ähnlich skandalträchtige Wende der US-Geopolitik vor über fünfzig Jahren.

Damals sahen sich die USA unter Präsident Richard Nixon international geschwächt. Nach der Entkolonisierung im Globalen Süden drohte eine Stärkung des gegnerischen sowjetischen Lagers, im Vietnamkrieg deutete sich gar eine militärische Niederlage an, und der Aufstieg Japans und Westeuropas gefährdete die wirtschaftliche Dominanz der USA. 1971 schickte Nixon deshalb seinen Sicherheitsberater Henry Kissinger zu geheimen Treffen in die Volksrepublik China, um die Möglichkeit einer Annäherung an die Regierung der Kommunistischen Partei unter Mao Zedong auszuloten. Nixon wollte die Chance nutzen, die sich aus dem bereits Jahre schwelenden Streit zwischen den sozialistischen Staaten Sowjetunion und China ergaben, und das geopolitische Gleichgewicht zugunsten der USA ändern.

Die Kommunistische Partei unter Mao, selbst durch die Wirren der Kulturrevolution und wirtschaftliche Probleme geschwächt, ging auf das Angebot ein, und das Undenkbare kam zustande: eine Kooperation der bisher verfeindeten kapitalistisch-imperialistischen USA mit der autoritär-sozialistischen Volksrepublik China. In den folgenden Jahren wurde die Kooperation vertieft. Die USA zogen ihre Atomwaffen und später alle Militäreinheiten aus dem von der Volksrepublik beanspruchten Taiwan ab, die Handelsbeziehungen wurden ausgebaut, und 1979 nahmen die USA und die Volksrepublik China diplomatische Beziehungen auf.

Der Prozess war anfangs brüchig, der Ausgang ungewiss. Erst ein Jahrzehnt später wurden die enormen Folgen der geopolitischen Wende klarer, die letztlich gar zum Zusammenbruch des Ostblocks und zum Aufstieg der Volksrepublik China beitragen sollten. Heute erleben wir ein ähnliches Manöver wie dasjenige von Nixon, nur eben umgekehrt. Die US-Regierung buhlt um die Gunst Russlands, ehemals Kernland der Sowjetunion, weil sie das russisch-chinesische Bündnis schwächen will. Als geopolitische Hauptgegnerin sieht die US-Regierung nun die Volksrepublik China.

Seit der Präsidentschaft Barack Obamas haben alle Nachfolger versucht, den Aufstieg der Volksrepublik zur dominanten Weltmacht zu bremsen. Zuletzt haben sie die Lieferung von Hochtechnologie eingeschränkt, Zölle auf chinesische Importe verhängt und US-Militärstützpunkte im Westpazifik ausgebaut. Während unter Joe Biden zuletzt Einfluss und Macht Chinas gemeinsam mit den europäischen Verbündeten eingedämmt werden sollten, hat sich die jetzige Regierung von diesen entfernt und verlangt, dass sie mehr Mittel in die eigene Verteidigung stecken. Verteidigungsminister Pete Hegseth begründete die Abkehr von Europa bei seiner ersten Rede am Treffen der Kontaktgruppe für die Verteidigung der Ukraine in Brüssel Mitte Februar mit der Notwendigkeit, Ressourcen auf die Konfrontation mit der Volksrepublik China im Westpazifik zu konzentrieren.

Lockrufe nach Europa

Nach der Auseinandersetzung zwischen Trump und Selenski im Weissen Haus zeigten sich Russlands Regierungssprecher Dmitri Peskow wie der Aussenminister Sergei Lawrow erfreut über den Seitenwechsel der USA. Sie sehen ihre Position gestärkt und deuteten eine Annäherung und eine wirtschaftliche Kooperation mit den USA an. Präsident Wladimir Putin lobte die Versuche der US-Regierung, zu einer Beendigung des Krieges in der Ukraine beizutragen. Allerdings reagierte er zuletzt zurückhaltend auf den Vorschlag einer Waffenruhe, auf den sich die Regierungen der USA und der Ukraine im saudi-arabischen Dschidda verständigt hatten (vgl. «Übers Ohr gehauen» im Anschluss an diesen Text).

Die chinesische Regierung unter Xi Jinping will derweil die weitere Entwicklung der Volksrepublik als Weltmacht absichern. Um sich gegenüber den wirtschaftlichen und politischen Attacken aus den USA behaupten zu können, braucht sie auch die Partnerschaft mit der Militärmacht Russland sowie russische Rohstofflieferungen. Schon als sich die US-Wende Richtung Russland andeutete, telefonierte Xi mit Putin, um die Partnerschaft der beiden Länder zu bekräftigen.

Ein Bruch der transatlantischen Allianz USA–Europa eröffnet der chinesischen Regierung gleichzeitig auch die Chance, auf die europäischen Wirtschaftsmächte zuzugehen und sie weiter von den USA wegzuziehen. Deshalb sprach sich der chinesische Aussenminister Wang Yi am Rand der Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking Anfang März – ohne Trump beim Namen zu nennen – gegen das «Schikanieren» schwächerer Länder durch stärkere aus. Er unterstrich zudem die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit den europäischen Ländern. Schon zuvor hatte der Sprecher des Nationalen Volkskongresses Lou Qinjian auf den diesjährigen 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und der EU hingewiesen und betont, dass diese Beziehungen von keiner «dritten Partei» abhingen – mutmasslich ein Hinweis auf die USA.

Wie weit die Annäherung der Regierung Trumps an Putins Russland gehen wird und ob der «umgekehrte Nixon» zu einer bleibenden Achse Washington–Moskau führen wird, ist nicht ausgemacht. Fraglich ist auch, ob europäische Regierungen zu einer engeren Kooperation mit der Kommunistischen Partei Chinas bereit sind. Bereits 2019 erklärte die EU-Kommission die Volksrepublik China zur «strategischen Rivalin», und das Europaparlament legte das Ende 2020 zwischen den Spitzen von EU und Volksrepublik ausgehandelte Investitionsabkommen auf Eis.

Entscheidend für die geopolitische Entwicklung wird die in jedem Fall übergeordnete Auseinandersetzung zwischen den Regierungen der USA und Chinas bleiben. Der von Trump in seiner ersten Amtszeit 2018 ausgerufene Handelskrieg gegen die Volksrepublik wurde unter Biden fortgesetzt. Jetzt hat Trump ihn weiter verschärft. Bereits zweimal liess er die Zölle auf chinesische Warenimporte um jeweils zehn Prozentpunkte erhöhen. Vertreter:innen seiner Regierung trafen sich zudem Ende Februar mit japanischen und niederländischen Kolleg:innen. Sie sprachen über weitere Beschränkungen der Lieferung von Halbleitertechnologie auch aus deren Ländern an die Volksrepublik.

Allerdings hat Trump auch ein weiteres amerikanisch-chinesisches Handelsabkommen ins Spiel gebracht. Schon während seiner ersten Präsidentschaft wurde im Januar 2020 nach langwierigen Verhandlungen das «Phase eins»-Handelsabkommen unterzeichnet. Um weitere Zollerhöhungen durch die USA zu vermeiden, verpflichtete sich die chinesische Seite unter anderem, den Import von US-Waren um 200 Milliarden US-Dollar zu steigern.

Obwohl diese Zielvorgabe in den folgenden Jahren nicht erreicht wurde, erhofft sich Trump jetzt von einem neuen Abkommen höhere chinesische Investitionen in den USA und erneut die Steigerung des Einkaufs von US-Waren. Die chinesische Regierung könnte angesichts der eigenen wirtschaftlichen Probleme ein solches neues Abkommen befürworten. Konkrete Schritte wurden jedoch noch nicht unternommen, und weiterhin ist es auch möglich, dass der Konflikt zwischen den beiden Weltmächten eskaliert – ökonomisch, politisch und militärisch.

Parallelen zur Kulturrevolution

Es bleibt auch abzuwarten, wie sich die geopolitischen Verschiebungen auf der innenpolitischen Ebene in den USA auswirken. Die amerikanisch-chinesische Annäherung nach 1971 ging ohne viel Getöse vonstatten – auch weil der Prozess anfänglich geheim gehalten wurde und nur langsam fortschritt. Diesmal geschah die US-amerikanisch-russische Annäherung öffentlich und mit einem Knall. Sie fällt auch zusammen mit dem innenpolitischen Angriff von Trumps Regierung auf die staatliche Bürokratie, seinen Beschimpfungen der Demokratischen Partei, seiner Regierungsführung über präsidiale Dekrete, der Kampagne zur Ausweisung papierloser Migrant:innen und der angekündigten Repression gegen politische Proteste.

In chinesischen sozialen Medien sehen User:innen auch hier eine Parallele in der chinesischen Geschichte, und zwar zur Kulturrevolution mit den damaligen Angriffen auf politische Gegenspieler:innen und Menschen mit unsicherem Status.

1966 von Mao Zedong und seiner Fraktion in der Partei ausgelöst, wandte sich die Kulturrevolution gegen die rivalisierende Parteifraktion hinter Liu Shaoqi und Deng Xiaoping sowie die von diesen geleitete Partei- und Staatsbürokratie. Rote Garden aus jungen Anhänger:innen Maos griffen vor allem die «schwarzen Elemente» in der Gesellschaft an: Menschen, die keine «rote» Parteigeschichte aufweisen konnten, darunter viele Arbeiter:innen und Arme.

Was die chinesischen User:innen allerdings nicht erwähnen: Junge prekäre Arbeiter:innen, aufs Land geschickte Jugendliche und andere nutzten die Kulturrevolution, um eigene machtvolle Bewegungen von unten zu organisieren. Diese standen hinter den aufständischen Mobilisierungen von 1967 und 1968, die die Parteiführung zu materiellen Zugeständnissen an die rebellischen Arbeiter:innen zwangen und das Regime letztlich gar an den Abgrund drängten.

Interessant wird sein, ob dies eine Entsprechung in den heutigen USA finden wird. Bisher ist dort ein sozialer Aufstand ausgeblieben. Die zunehmende Zahl von Demonstrationen gegen Trumps Regierung zeigt jedoch, dass sich gegen die Entlassungen, die Abschiebungen und die autoritäre Wende Widerstand formiert. Sollte dieser auch US-Imperialismus, Militarisierung und Krieg ins Visier nehmen wie während des Vietnamkriegs in den sechziger und siebziger Jahren, könnte die Geschichte eine weitere Wende erfahren.

Trump und Putin am Telefon: Übers Ohr gehauen

Als habe Wladimir Putin zeigen wollen, was er sich unter einem Frieden vorstellt: Kaum war das Telefonat mit Donald Trump beendet, flogen am Dienstag Raketen und Drohnen auf Kyjiw und weitere ukrainische Regionen. Ein Spital soll angegriffen worden sein, stundenlang ertönte der Luftalarm. «Putin hat den Vorschlag für einen kompletten Waffenstillstand de facto abgelehnt», schrieb Wolodimir Selenski in sozialen Medien.

Tatsächlich haben Trump und Putin zwar lange miteinander telefoniert, viel herausgekommen ist dabei allerdings nicht. Lediglich einem Vorschlag der USA stimmte der russische Machthaber zu: Dreissig Tage lang soll es keine Angriffe auf Energieinfrastruktur geben. Ein Scheinkompromiss, der Trump von Putins gutem Willen überzeugen und gleichzeitig den Druck auf Selenski erhöhen soll. Denn während die russische Luftwaffe zuletzt ohnehin weniger Angriffe auf Kraftwerke und ähnliche Einrichtungen flog, griff die ukrainische immer wieder russische Ölraffinerien an. Er unterstütze die Feuerpause grundsätzlich, liess der ukrainische Präsident verlauten. Viel anderes blieb ihm auch gar nicht übrig.

Putin kann sich derweil aus einem Dilemma befreien, vor das ihn das amerikanisch-ukrainische Waffenstillstandsangebot von letzter Woche stellte. Weil ein Kriegsende derzeit nicht seinen Interessen entspricht, hätte er nicht zustimmen können; ein klares Nein wiederum hätte Trump vermutlich erzürnt. Ansonsten aber ist der Kreml nicht von seiner Position abgerückt. Zwar sei er für Frieden, vorher müssten aber die «Ursachen der Krise beseitigt» und es müsse den «legitimen Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung getragen» werden, liess Putin mitteilen – womit seine alten imperialistischen Forderungen gemeint sind: kein Nato-Beitritt der Ukraine, eine prorussische Regierung in Kyjiw, eine dezimierte ukrainische Armee.

Alles Weitere, worüber Trump und Putin sprachen, bleibt vage. So soll eine amerikanisch-russische Expertengruppe im Nahen Osten noch diese Woche Verhandlungen aufnehmen, etwa über eine Waffenruhe im Schwarzen Meer. Wieder werden weder die Ukraine noch ihre europäischen Unterstützer:innen mit am Tisch sitzen.