Freiräume: Gardening statt Garten

Nr. 21 –

In Bern soll ein besetztes Haus abgerissen werden, um einer Zwischennutzung Platz zu machen. Dagegen wehren sich nicht nur die Bewohner:innen, sondern auch Menschen aus dem Quartier.

Diesen Artikel hören (7:45)
-15
+15
-15
/
+15
Begrünte Terasse in der Siedlung «Toujours»
Die begrünte Terrasse verbindet Haus und Garten: Geht es nach einer grossen Baufirma, soll das alles einer «Freiraumnutzung» weichen.

Der schnellste Weg in den Garten des Café Toujours führt durch das Küchenfenster. Dahinter liegt eine Holzterrasse, auf der Christo Meier* steht und auf Schalen und Töpfe mit Setzlingen deutet. «Wir ziehen alles selber», sagt der Besetzer und gelernte Landschaftsgärtner und meint eine Vielzahl einheimischer Wild- und Nutzpflanzen. Eine Leiter führt in den Garten. Im Sommer hüpfen hier Kinder aus dem Quartier auf einem grossen Trampolin auf und ab, daneben wuchert es in verschiedensten Grüntönen.

Der Garten ist auf möglichst hohe Biodiversität ausgerichtet, weshalb es neben Wildhecken und einer Trockenmauer auch ein Biotop gibt. Der Teich ist laut Meier nicht nur Lebensraum für Molche, sondern auch für Schwertlilien, Ufer-Wolfstrapp und über dreissig weitere Pflanzenarten. Das alles soll wie das ganze Haus plattgemacht werden – für ein temporäres Urban-Gardening-Projekt.

Care-Arbeit für die Stadt

Die grüne Oase ist eine der ältesten und eine der wenigen verbliebenen Wohnbesetzungen der Stadt Bern. Seit 2016 besetzt ein Kollektiv einen Teil eines alten Gebäudes an der Freiburgstrasse, das jahrelang leer stand. An einem Donnerstagnachmittag im April sitzen fünf der rund zehn Besetzer:innen des Café Toujours im Alter von 23 bis 42 Jahren im Wohnzimmer und erzählen von ihrem Alltag und von ihren politischen Zielen. «Es geht uns unter anderem darum, Freiraum zu manifestieren und zu verteidigen», erklärt Simon Ruch*, seit sieben Jahren Teil des Kollektivs.

In vielerlei Hinsicht ist das «Toujours» eine klassische Besetzung. Viele Bewohner:innen leisten wenig Lohnarbeit, um mehr Zeit für politische und soziale Projekte zu haben. Gleichzeitig leben seit den Anfängen auch Sans-Papiers im Haus. Die Menschen vom «Toujours» leisteten Care-Arbeit in verschiedenen Bereichen, sagt Meier. «Wo der Staat versagt, springen Leute aus Kollektiven wie dem unseren ein.» Ein Beispiel dafür ist die autonome Notschlafstelle in einem kleinen Betonverschlag im Garten, die das Kollektiv während mehrerer Jahre unterhielt. Auch in der Nachbarschaft sei man präsent und vermittle, wenn es etwa am nahe gelegenen Europaplatz mal zu einem Konflikt komme.

Der Europaplatz, überdacht von einem monströsen Autobahnviadukt, liegt wie das Café Toujours in Ausserholligen. Die Gegend ist durchmischt, hat einen relativ hohen Ausländer:innenanteil und bietet neben Eigentums- auch günstige Mietwohnungen. Obwohl fast in Bümpliz, ist man in knapp fünfzehn Velo- oder Tramminuten am Hauptbahnhof – mit dem Zug noch schneller. Kein Wunder, befindet sich hier ein sogenannter Entwicklungsschwerpunkt (ESP) der Stadt. In den nächsten Jahren sollen unter anderem alte Industrieflächen weichen und «ein urbanes Zentrum mit attraktiven, vernetzten Grün- und Freiflächen» entstehen. Es wird also nicht nur gebaut, sondern auch fleissig aufgewertet werden.

Wo sich heute das «Toujours» befindet, soll dereinst ein Hochhaus mit 150 Wohneinheiten stehen. Das geht aus einem Ausnahmegesuch des Besitzers, des Baukonzerns Marti AG, hervor, der auf eine Anfrage der WOZ nicht reagierte. Im ganzen ESP Ausserholligen soll Wohnraum für mehrere Tausend Personen entstehen. Gegen den Bau von Wohnungen habe man nichts einzuwenden, erklärt Christo Meier. «Aber wir stellen uns gegen eine Art von Entwicklung, die darauf hinausläuft, dass Menschen mit geringem Einkommen verdrängt werden.» Das Stadtplanungsamt Bern antwortet auf Anfrage, man sei sich der Gefahr, dass sich Menschen mit kleinerem Einkommen das Wohnen in der Stadt nicht mehr leisten könnten, bewusst, führe dies aber generell auf Wohnraumknappheit zurück. Die Stadt Bern verfolge darum «eine aktive Wohnbaupolitik, die insbesondere mehr Wohnraum zu Kostenmiete schafft».

Wogegen sich die Besetzer:innen unmittelbar wehren, ist der Abbruch auf Vorrat. Denn der Baustart auf dem Gelände des «Toujours» ist erst 2031 vorgesehen. Dennoch möchte die Marti AG das Haus schon in diesem Jahr abreissen. Das begründet die Firma im dafür nötigen Gesuch unter anderem damit, dass eine Wohnnutzung der Liegenschaft ohne Sanierung nicht möglich sei. Dem widerspricht das Kollektiv, das genau das tut.

An Absurdität kaum zu übertreffen ist eine unter «öffentliches Interesse» formulierte Begründung: Im Quartier bestehe ein «Defizit an Grün- und Freiräumen». Unter diesem Vorwand soll mit dem «Toujours» ein tatsächlicher Freiraum mit bestehendem Garten dem Erdboden gleichgemacht werden. Die leere Fläche würde der Quartierbevölkerung temporär zum Gärtnern oder für eine nicht näher definierte «Freiraumnutzung» zur Verfügung stehen. Die Initiative für das Projekt komme nicht von der Stadt, sondern von der Marti AG, teilt das Berner Stadtplanungsamt mit. Falls sich die Möglichkeit ergebe, einen Stadtgarten zu realisieren, unterstütze die Stadt die Eigentümerschaft bei der Umsetzung.

Unterstützung aus dem Quartier

Für die Besetzer:innen ist klar: Der Baufirma geht es darum, das «Toujours» frühzeitig aus dem Weg zu räumen. «Wir würden gerne mit der Marti AG verhandeln», sagt Simon Ruch. Auch der Idee eines Gemeinschaftsgartens würden sie nicht im Wege stehen – doch dafür müssten weder das Gebäude abgerissen noch der bestehende Garten zerstört werden. Gegen den Abriss sind 87 Einsprachen eingegangen, viele davon aus der Nachbarschaft. Auch 2017, als die Marti AG bereits Abbruchpläne hatte, setzten sich Anwohner:innen und ein Quartierverein für die Besetzer:innen ein.

«Das Café Toujours ist ein lebendiger und sozialer Ort, an dem unsere Nachbarschaft zusammenkommen kann», sagt Helin Genis. Die dreissigjährige Juristin und Gewerkschafterin ist im Quartier aufgewachsen und wohnt in der Nähe des «Toujours». Sie schätze den Ort an sich, aber auch kulturelle Veranstaltungen, die die Besetzer:innen regelmässig organisierten. Leute aus dem Quartier, die sich an der Besetzung störten, kenne sie keine, sagt Genis, und führt das auch darauf zurück, dass im «Toujours» praktisch nie Partys mit lauter Musik stattfänden. Am Erscheinungstag dieser WOZ reicht Genis, die für die SP im Berner Stadtrat sitzt, mit ihrem Kollegen Dominik Fitze eine Interpellation ein, die vom Gemeinderat eine Stellungnahme zur Praxis des «Abrisses auf Vorrat» fordert. «Ausserdem möchten wir wissen, inwiefern bestehende selbstverwaltete Freiräume in der Stadtplanungspolitik berücksichtigt werden.»

Bis an der Freiburgstrasse die Abrissbirnen aufgefahren werden, dürfte es noch dauern. «Auf juristischer Ebene kann sich das ewig hinziehen», meint Christo Meier. Er und seine Mitstreiter:innen finden, dass es in einer linken Stadt Platz haben müsse für Orte wie das «Toujours». Nicht nur der Garten, auch die leicht versiffte Besetzungsästhetik des Gebäudes zur Strasse hin sei wichtig. Denn: «Ein besetztes Haus ist immer auch eine Art Denkmal, ein Symbol für eine politische Gesinnung», formuliert es Simon Ruch.

* Name geändert.