Literatur: Gefangen in der Gewalt

Nr. 6 –

Der Roman «Mädchen brennen heller» der indisch-amerikanischen Schriftstellerin Shobha Rao beschreibt den Lebensweg von zwei jungen mittellosen Frauen von einer hierarchisch und patriarchalisch organisierten Dorfgemeinschaft im Südosten Indiens zu einer ebenso hierarchisch und patriarchalisch organisierten urbanen Subkultur im Nordwesten der USA.

Der Roman «Mädchen brennen heller» der indisch-amerikanischen Schriftstellerin Shobha Rao beschreibt den Lebensweg von zwei jungen mittellosen Frauen von einer hierarchisch und patriarchalisch organisierten Dorfgemeinschaft im Südosten Indiens zu einer ebenso hierarchisch und patriarchalisch organisierten urbanen Subkultur im Nordwesten der USA. Geografisch legen die beiden Freundinnen Purnima und Savita grosse Distanzen zurück, doch sie bleiben gefangen in einem System, das man da wie dort als Sklaverei bezeichnen kann.

Leibeigenschaft ist vielleicht der noch treffendere Ausdruck für das Los der beiden Inderinnen, denn es ist vor allem ihr weiblicher Körper, der von Männern (mithilfe ihrer KomplizInnen) auf jede nur denkbare Art und Weise ausgebeutet, geschändet und verstümmelt wird. Es ist der Autorin, die jahrelang als Anwältin mit Opfern von häuslicher Gewalt und Menschenhandel zusammengearbeitet hat, hoch anzurechnen, dass sie nicht nur die Unmenschlichkeit der Täter – zuweilen unverschämt grell – beleuchtet, sondern auch der Menschlichkeit der Entrechteten, ihren Gedanken und Gefühlen, ihren Ängsten und Hoffnungen viel Raum gibt. Die Hauptfiguren leben zwar in grosser Armut, doch ihr Innenleben ist reich, wenn auch nicht unversehrt. «Ich bin die mit Flügeln», sagt Savita zu ihrer Freundin, bevor sie der einen Grausamkeit entflieht und in die nächste gerät.

Die Stärke des Buches, die Empathie für die Opfer, entblösst gleichzeitig auch eine Schwäche oder regt zumindest zum Nachhaken an: Wie und wie weit kann sich ein gut integrierter Mensch in total marginalisierte Figuren hineinversetzen? Wie kann man das Leben ganz unten abbilden, ohne je ganz unten gewesen zu sein? Shobha Rao hat sich bereits in ihrem ersten Roman der enormen Herausforderung gestellt. Das ist mutig und wichtig, auch weil ein solch «gewaltsames Verstehen» immer ein Stück weit scheitern wird.

Shobha Rao: Mädchen brennen heller. Aus dem Amerikanischen von Sabine Wolf. Elster Verlag. Zürich 2019. 380 Seiten. 32 Franken