Sicherheitspolitik: «Russland will den Westen lähmen»
Drohnen im Nato-Luftraum, Cyberangriffe und Desinformation: Seit Jahren wird vor Russlands «hybridem Krieg» gewarnt. Aber taugt das Konzept für die Beschreibung der militärisch-politischen Wirklichkeit? Antworten des britischen Sicherheitsexperten Mark Galeotti.
  WOZ: Herr Galeotti, letzte Woche drangen rund zwanzig russische Drohnen in den polnischen Luftraum ein. Ein Versehen oder Absicht?
Mark Galeotti: Tatsächlich können Fehler vorkommen, wenn sich jemand bei der Eingabe des Kurses irrt oder eine Drohne wegen eines gegnerischen Störsignals vom Kurs abkommt. Doch allein ihre Anzahl schliesst diese Möglichkeit so gut wie aus. Wir müssen also davon ausgehen, dass es absichtlich geschah. Vermutlich ging es bei dem Manöver darum, die ukrainische Luftabwehr von Westen her zu durchbrechen – dort, wo sie am schwächsten ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Russen so vorgehen. Von einem Angriff im eigentlichen Sinn kann man dennoch nicht sprechen: Die meisten Flugkörper waren offenbar Dummydrohnen – eingesetzt, um die Flugabwehr zu täuschen. Ich glaube, dass es vor allem auch ein Test, eine Warnung an den Westen war.
WOZ: Inwiefern?
Mark Galeotti: Das Manöver fand im Kontext der «Sapad»-Militärübung in Belarus und der Erklärung Wladimir Putins statt, er betrachte allfällige Nato-Truppen in der Ukraine als legitime militärische Ziele: ein klassisches Beispiel für seine verschlagene Verhandlungstaktik. Wir sind es gewohnt, dass es bei Verhandlungen um Kompromisse geht: Je näher man einer Einigung kommt, desto freundlicher wird man. Putins Ansatz ist eher, umso hartnäckiger zu werden, je näher man einem Deal kommt. Er geht davon aus, dass sich die Gegenseite einem Abkommen verpflichtet fühlt, was er wiederum nutzen kann, um weitere Zugeständnisse zu erpressen. Entscheidend ist der Zeitpunkt: Die «Koalition der Willigen» berät derzeit über Sicherheitsgarantien, die sie der Ukraine im Vorfeld von Verhandlungen mit Putin anbieten will. Es geht also um ein Signal: «Denk gut darüber nach, wie viel für dich auf dem Spiel steht, Europa, wie weit du uns drängen willst, denn wir sind zu grösseren Risiken bereit als du.»
Nato-Vertreter:innen bemühten sich, den Vorfall in Polen herunterzuspielen. Wie bewerten Sie deren Reaktion?
Mark Galeotti: Eine schwierige Frage. Wie soll man auch auf so etwas reagieren? Ich denke, es war richtig, dass sich die Nato nicht in eine Eskalationsrhetorik à la «Oh Gott, das ist ein russischer Angriff» hineinziehen liess. Gleichwohl kündigte sie eine neue Operation an – wie heisst sie schon wieder? Sie kommen immer mit diesen neuen, aufregenden Namen.
WOZ: Im Rahmen der Operation «Eastern Sentry» (Wächter des Ostens) sollen an der Ostflanke mehr Luftabwehrkapazitäten bereitgestellt werden.
Mark Galeotti: Das meiste davon ist bloss symbolisch – was in der Politik aber durchaus wichtig ist. Was wir nicht wissen, ist, ob das russische Manöver die Überlegungen der Europäer:innen dazu beeinflusst hat, was sie für die Ukraine tun wollen. Eines hat es verdeutlicht: wie entscheidend die Frage der Kosten für die Überwachung des Luftraums ist. 10 000-Dollar-Drohnen werden von Raketen abgeschossen, die über eine Million kosten – keine gute Kapitalrendite. Man sollte über das Thema zwar nicht so sprechen, aber das Manöver hat uns daran erinnert, wie teuer es werden kann, wenn sich Europa zu einer Flugverbotszone über der Ukraine verpflichten und Russland diese testen würde. Hinzu kommt, dass dadurch die Raketenvorräte aufgebraucht würden – es gibt immer nur eine begrenzte Anzahl davon. Man kann Raketen nicht einfach bei Amazon kaufen und sich am nächsten Tag liefern lassen, sondern landet in einer Warteschlange, möglicherweise für Jahre.
Der Sicherheitsexperte
Der britische Historiker Mark Galeotti (60) ist Experte für russische Militär- und Sicherheitspolitik, Honorarprofessor am University College London und Direktor der Beratungsfirma Mayak Intelligence. Ausserdem ist er Autor zahlreicher Bücher, darunter «The Weaponisation of Everything. A Field Guide to the New Way of War» (2022) und «Forged in War. A Military History of Russia from its Beginnings to Today» (2024). Er führt zudem durch den wöchentlichen Podcast «In Moscow’s Shadows».
WOZ: In der Öffentlichkeit war nach dem Vorfall in Polen rasch von Russlands hybrider Kriegsführung die Rede – einem Phänomen, vor dem westliche Geheimdienste und Medien seit Jahren warnen. Woher stammt der Begriff?
Mark Galeotti: Ich hasse ihn aus tiefstem Herzen, weil er derart irreführend ist! Ursprünglich sollte er erklären, wie Staaten mit den Mitteln nichtstaatlicher Akteure gegen andere Staaten kämpfen. Die Kriege von Hisbollah und Hamas gegen Israel wären klassische Beispiele dafür, was ursprünglich unter hybrider Kriegsführung verstanden wurde. Mit der Zeit und insbesondere nach der Krim-Annexion von 2014 wurde das Konzept erweitert – und umfasst nun alles, was noch kein grossflächiger Krieg ist: von militärischen Aktionen über Desinformation bis zu Korruption. Das finde ich aus drei Gründen problematisch: Der erste ist, dass jedes Land so etwas ständig macht. Länder nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um Druck auszuüben. Man könnte sogar Donald Trumps Einsatz von Zöllen als hybriden Krieg bezeichnen. Der Begriff impliziert allerdings, dass man es mit etwas Besonderem, Anderem zu tun hat – er wird gern gegen bestimmte Länder in Stellung gebracht: Russland, China oder den Iran.
WOZ: Und die beiden anderen Gründe?
Mark Galeotti: Der Begriff entspricht nicht der russischen Sichtweise. Diese kommt viel eher dem nahe, was US-Diplomat George Kennan als «politischen Krieg» bezeichnete: den Einsatz aller Mittel, um seine Ziele zu erreichen – legaler und illegaler Mittel, offener und verdeckter, alles bis knapp vor dem offenen Krieg. Zudem impliziert er, dass Desinformation oder was auch immer nur ein Vorspiel ist, es irgendwann tatsächlich militärisch wird. Auch das entspricht nicht Russlands Position: Für sein Militär sind hybride Massnahmen zwar ein Mittel, um den Boden für die Entsendung von Truppen zu bereiten. Die politische Führung aber – in Russland die dominierende Kraft –, sieht darin meist eine Alternative zu militärischen Mitteln.
WOZ: Welches Ziel verfolgt Russland damit?
Mark Galeotti: Den Westen zu lähmen und zu spalten. Der Kreml versucht, interne Spannungen zu verschärfen, damit wir so sehr mit Streitereien beschäftigt sind, dass wir politisch lahmgelegt sind. Das Potenzial der Spaltung liegt darin, dass der Westen nur im Verbund stark ist.
WOZ: Hatte Russland mit seinen hybriden Operationen in der Vergangenheit Erfolg?
Mark Galeotti: Die Annexion der Krim war eine politische Militäroperation wie aus dem Lehrbuch. Der ukrainische Staat war zusammengebrochen, Teile der Bevölkerung standen der Idee eines Anschlusses an Russland relativ wohlwollend gegenüber – eine Position, die der Kreml aber auch aktiv förderte. Zunächst stationierte Moskau ein paar wenige Truppen und Spezialeinheiten vor Ort, allerdings ohne Insignien, was für Verwirrung sorgte: Waren es russische Soldaten, Söldner oder etwas anderes? So konnte Russland die Krim fast ohne Blutvergiessen einnehmen. Dieser Erfolg hat die «hybride Kriegsindustrie» auf Touren gebracht; viele fragten sich, welcher Ort als Nächstes dran ist: Narva in Estland oder eine andere Stadt? Dahinter stand die Vorstellung, dass die Russen plötzlich über irgendeine geheimnisvolle Militärtechnologie verfügten, mit der sie überall für Instabilität sorgen und die Macht übernehmen könnten – was eindeutig nicht der Fall ist. Hybride Kriegsführung ist keine magische Antwort, nichts, was die moderne Kriegsführung komplett umkrempelt. Es ist mehr eine Art, zu beschreiben, was an einem bestimmten Ort passiert, denn etwas wirklich Neues.
WOZ: Wenn Sie sagen, der Begriff sei unbrauchbar: Wer profitiert, wenn ständig von Russlands hybridem Krieg gegen den Westen die Rede ist?
Mark Galeotti: Natürlich gibt es eine Art «Hybrider-Krieg-Industrie». Nehmen wir etwa das Europäische Kompetenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen, eine Institution von EU und Nato: Es hat einen Anreiz, seine Existenz und sein Budget zu rechtfertigen. Dann gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die ihre Karrieren auf der Expertise und Vermarktung dieses Begriffs aufbauen. Das tönt jetzt nach Betrug, aber ich glaube, es ist alles viel weniger unheimlich: Sobald ein Konzept in der öffentlichen Debatte an Bedeutung gewinnt, wird es auch von Nichtfachleuten verwendet – als praktische Kurzform für all die Dinge, die derzeit passieren. Vor ein paar Jahren sollte ich US-Offiziere in Europa briefen. Ich wurde gebeten, lieber von «Kriegsführung in der Grauzone» zu sprechen – ein bedeutungsloser Begriff verdrängt den anderen. Solche Dinge sind oft eine Modeerscheinung.
WOZ: Auffällig finde ich, wie das Sprechen vom hybriden Krieg das Denken direkt in militärische Bahnen lenkt.
Mark Galeotti: Genau. Im Grunde agieren alle Staaten auf einem Spektrum von Konflikten miteinander, sogar mit Verbündeten. Die Frage ist, wo Krieg beginnt – eine fast schon sinnlose Diskussion: Die Purist:innen würden sagen, es sei kein Krieg, wenn nicht Panzer gegen Panzer kämpfen. Aber was ist mit Attentaten auf dem Territorium eines anderen Staates oder einem Cyberangriff, der schwerwiegende Folgen haben und Menschen töten könnte? Ist das schon Krieg? Leider können die Abkürzungen, die wir verwenden müssen, weil man nicht ständig in Fussnoten sprechen kann, gefährlich werden, weil sie uns dazu bringen, auf eine bestimmte Weise zu denken. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass Putin selbst das Wort «Krieg» verwendet, wenn er über Russlands Beziehungen zum Westen spricht.
WOZ: Auch in Russland wird von einer «gibrydnaja wojna» (hybriden Kriegsführung) gesprochen. Wie ist der Begriff dort gemeint?
Mark Galeotti: Aus russischer Sicht ist hybrider Krieg etwas, das der Westen ihnen antut. Dahinter steckt die paranoide Vorstellung, wonach der Arabische Frühling, die «Farbrevolutionen» im postsowjetischen Raum oder auch die «Revolution der Würde» in der Ukraine keine organischen Aufstände von Leuten waren, die genug hatten von korrupten und autoritären Regierungen, sondern Operationen von CIA und MI6. Aus ihrer Sicht verfügt der Westen über Technologien, um Länder zu destabilisieren und unliebsame Regime zu stürzen. Entsprechend sah Putin auch in der russischen Protestbewegung von 2012/13 einen US-Angriff auf seine eigene Person.
WOZ: US-Operationen gegen andere Staaten hat es in der Geschichte aber ja durchaus gegeben.
Mark Galeotti: Ja, denken wir nur daran, wie die CIA Regierungen in Lateinamerika destabilisiert hat. Die Schweinebuchtinvasion 1961 etwa war in vielerlei Hinsicht eine klassische hybride Operation: Kubanische Einwander:innen wurden von der CIA ausgebildet und bewaffnet, um eine Regierung zu stürzen, die den USA missfiel. In der Zeit vor dem Internet waren die Verbreitung von Desinformation und die Anstachelung radikaler politischer Bewegungen allerdings viel schwieriger. Heute leben wir in einem gemeinsamen Informationsraum, wissen viel mehr über Rivalitäten und Spannungen, auch wenn sie sich weit weg abspielen.
WOZ: Was hat sich denn verändert?
Mark Galeotti: Die Geschwindigkeit. Noch ein Beispiel: Als Aids aufkam, lancierte der KGB eine Desinformationskampagne namens «Operation Infektion». Er streute die Falschinformation, die Epidemie sei Ergebnis eines US-Biowaffenexperiments. Damit sich die Nachricht verbreitete, baute der Geheimdienst weltweit Zeitungen auf. Er platzierte die Geschichte in einem indischen Medium, andere griffen sie auf, bis sie schliesslich in die westliche Presse gelangte. Eine wahnsinnig teure und aufwendige Operation. Heute kann einfach irgendein anonymer Bot etwas auf Twitter posten. Trifft es den Zeitgeist und wird die Info mit eigenen Bots verstärkt, kann sich eine Geschichte innert Sekunden um den Globus verbreiten. Dass sich Mittel, Umfang und Geschwindigkeit verändert haben, macht den Umgang damit so schwer.
WOZ: Westliche Staaten rechtfertigen die Erhöhung ihrer Militärbudgets oft mit der Gefahr eines hybriden Krieges. Ist das die richtige Strategie?
Mark Galeotti: Auf jeden Fall sollten wir nicht in Panik verfallen. Dass Europas Verteidigungsausgaben steigen, finde ich richtig: Man hat sich zu lange hinter dem Schutzschild der USA versteckt, nun muss man Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Das Problem ist: Die Konzentration auf den Kauf neuer Raketen und Panzer behebt die Schwachstellen im hybriden Bereich nicht, verschlimmert sie in gewisser Weise sogar. Das Geld für die Aufrüstung kommt vermutlich aus Einsparungen bei den Staatsausgaben oder aus Steuererhöhungen, die einen Teil der Bevölkerung unzufriedener machen. Dabei ist Sicherheit ganzheitlich; wir dürfen nicht zulassen, dass sich Gemeinschaften ausgegrenzt fühlen – seien es Minderheiten oder Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, die meinen, ihre Interessen würden vernachlässigt. Sie sind das Hauptziel politischer Operationen. Wir sollten aber auch andere Sicherheitsaspekte nicht vernachlässigen, etwa die Geheimdienste. Nehmen wir den F-35-Kampfjet, derzeit so etwas wie der Goldstandard: Für den Preis eines Flugzeugs lässt sich der Spionageabwehrdienst eines ganzen Landes ausstatten.
WOZ: Der exorbitante Preis der Jets gibt derzeit auch in der Schweiz zu reden.
Mark Galeotti: Ja, es geht um riesige Summen. Wichtig ist mir auch ein anderer Punkt: die Erkenntnis, dass hybride Kriegsführung mit Terrorismus vergleichbar ist. Natürlich versucht man, die Netzwerke zu zerschlagen; aber man muss auch akzeptieren, dass man nicht alle Anschläge verhindern kann. Ich finde die Rhetorik vieler Politiker:innen problematisch, die hybride Kriegsführung als eine böse russische Waffe darstellen, die wir besiegen können. Der entscheidende Faktor ist also Resilienz. Sei es die Verstärkung einer lauten, spaltenden politischen Stimme oder ein Cyberangriff auf kritische Infrastruktur: Wir müssen einen Umgang mit solchen Vorfällen finden. Hybride Kriegsführung hat zum Ziel, uns zu einer Veränderung unserer Einstellungen zu zwingen – dem müssen wir widerstehen, was natürlich schwierig ist. Und gerade deshalb tun westliche Staaten zu wenig dafür. Es ist viel einfacher zu sagen: «Kaufen wir diesen neuen Jet oder den neuen Panzer.»
WOZ: Das sind nun eher allgemeine Punkte, aber was lässt sich gegen die reale russische Bedrohung unternehmen?
Mark Galeotti: Die meisten ihrer Operationen sind gescheitert. Es gibt etwa noch immer keine Beweise dafür, dass sie einen wesentlichen Einfluss auf Trumps Wahlsieg hatten. Auch wurde viel Aufmerksamkeit darauf verwendet, zu zeigen, inwieweit der Kreml den Brexit unterstützte – was er eindeutig tat, der Brexit war ein Geschenk für Russland. Gemäss Berechnungen haben sie das Abstimmungsergebnis allerdings um vielleicht 0,2 Prozentpunkte beeinflusst. Vieles, was als Ergebnis von Russlands hybridem Krieg gilt, ist es gar nicht. Ich sehe zwei Möglichkeiten, die Bedrohung zu stoppen.
WOZ: Welche?
Mark Galeotti: In der Abschreckungstheorie gibt es verschiedene Wege. Der eine ist Bestrafung: Tust du mir etwas Böses an, werde ich dir etwas Böses antun. Der andere ist Verweigerung: Es lohnt sich nicht, mir etwas Böses anzutun, weil es nicht funktionieren wird. Ersteres können wir nicht, wir werden ja nicht einen Cyberangriff auf das Gesundheitssystem mit den gleichen Mitteln vergelten. Also müssen wir uns auf Letzteres konzentrieren: uns zu einem möglichst schwierigen Ziel machen. Fälle aufdecken, in denen Geld zur Unterstützung einer spaltenden Person geschickt wird; Bot-Netzwerke, die Desinformation verbreiten und verstärken, zerschlagen oder zumindest von den Plattformen verbannen. Und erreichen, dass Russland eine Operation nicht durchführen kann, weil es annimmt, dass sie nicht funktionieren wird. Dafür sind verschiedene Bereiche wichtig – von der Medienerziehung, um Fälschungen zu erkennen, bis zur Gewährleistung von Cybersicherheit für unsere kritische Infrastruktur.