Ein Traum der Welt: Mann mit Buch

Nr. 38 –

Annette Hug geht einem Vorurteil auf den Grund

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Kürzlich auf Instagram: Ein bärenstarker Mann zeigt Bücher vor. Eins ums andere hält er in die Kamera: George Orwell, «1984», Aldous Huxley, «Schöne neue Welt», Maya Angelou, «Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt», Colleen Hoover, «Nur noch ein einziges Mal», und einige mehr.

Offenbar hat die Verwaltung von Edmonton, Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta, eine Liste mit Büchern veröffentlicht, die aus Schulbibliotheken zu entfernen sind. Darüber ist eine Kontroverse entbrannt. Die Direktive wurde bereits wieder geändert. Nicht alle expliziten sexuellen Inhalte sollen den Kindern und Jugendlichen vorenthalten werden, sondern nur noch visuell dargestellte und besonders krasse Inhalte. Eine Frist zur Umsetzung dieser Änderung wurde vom 1. Oktober 2025 auf Januar nächsten Jahres verschoben.

Interessanter als diese Geschichte, die wohl wegen der Ähnlichkeit mit Ereignissen in den USA auf sozialen Netzwerken trendet, ist der Mann, der die aussortierten Bücher in die Kamera hält. Neben seinen Muskeln sticht die Aufschrift des T-Shirts ins Auge. Da steht weiss auf schwarz: «Read books. Lift weights. Fight fascists.» – Lies Bücher. Stemm Gewichte. Bekämpfe Faschisten. (Auf Deutsch wohl auch Faschistinnen, aber dann fiele der Rhythmus flach.) Die Bücher liegen leicht wie Federn in den Händen des Muskelmanns mit dem Account «non_toxic_masculinity».

Der Kerl kam mir gleich bekannt vor, weil seit Jahren ein Plakat in meinem Büro steht, das eine Weile lang auf dem Büro des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds in Bern verschenkt wurde. Der Druck aus dem Jahr 1923 zeigt einen halb nackten, äusserst schön gebauten Mann. Nur mit einem roten Lendenschurz bekleidet, lehnt er sich an ein Pult. Da steht ein Globus drauf. Sein rechtes Knie ist so aufgestützt, dass er ein Buch darauf balancieren und darin lesen kann. ­«Ouvriers adhérez aux Centres d’Éducation ouvrière», steht da. (Das Plakat existiert auch auf Deutsch, da sollen sich die Arbeiter einem gewerkschaftlichen «Bildungsausschuss» anschliessen.) Eingerahmt und aufgestellt habe ich dieses Werk der Grafikerin Dora Hauth-Trachsler, weil es mich zum Lachen bringt. Zwischen den Strichen scheint es zu sagen: «Lesen ist nicht so weibisch oder schwul, wie ihr denkt!» Ein Sportsmann kann den Diskus mit einem Buch vertauschen, das wird dann nicht in die Weite geschleudert, es liegt allerdings prekär auf dem nackten Oberschenkel auf und droht abzurutschen.

Wie viele Männer durch solche Werbung vom Faschismus abgehalten und guter Literatur zugeführt wurden, ist wohl nicht zu eruieren. Vielleicht ist der Gewichtheber auf Instagram so erfolgreich, weil Peter Bichsel recht hatte. Als der Schriftsteller einmal eingeladen wurde, etwas zu Leseförderung zu schreiben, machte er den Vorschlag, zumindest gewisse Bücher zu verbieten. So würde das Lesen erst richtig aufregend. Tatsächlich erinnere ich mich an den besonderen Reiz, Bücher aus dem Bereich «ab 16» zu lesen, obwohl ich erst zwölf war. Das funktionierte allerdings nur, weil das Verbotene zwar als gefährlich markiert, aber trotzdem relativ einfach zugänglich war. Subversive Bibliothekar:innen müssten vielleicht dem Beispiel von Buchhandlungen in New York folgen, die «banned books» auf einem speziellen Tisch anpreisen.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Mehrere Plakate von Dora Hauth-Trachsler sind auf der Website des Schweizerischen Sozialarchivs zu sehen.