Ein Traum der Welt: Literatur im Umbau
Annette Hug sucht in Solothurn einen Weg

Das Landhaus wird renoviert. Normalerweise ist hier das Zentrum der Solothurner Literaturtage. Aber dieses Jahr war die Gasse zwischen Landhaus und «Kreuz» halb abgesperrt, vor der Beiz sassen also nur wenige. Auch Peter Bichsel sass nicht mehr da.
Es blieb die Erinnerung, wie er vor dem «Kreuz» von Alexandre Voisard sprach – der sollte gleich lesen. Ich kannte nicht einmal den Namen. Bichsel erzählte uns von einem Ausflug nach Delémont: Als Sympathisant der jurassischen Unabhängigkeitsbewegung sei er 1967 hingefahren. Im Wissen, dass man als Deutschschweizer nicht so ganz willkommen war, stand er in den hinteren Reihen. Auf der hohen Treppe des Rathauses deklamierte Alexandre Voisard ein Gedicht. «40 000 haben jede Zeile mitgesprochen!» Wenn ich mich recht erinnere, machte sich Bichsel über eine heimliche Sehnsucht lustig, die ihm in Delémont bewusst geworden sei: Mit Gedichten revolutionäre Volksmassen begeistern, davon konnte ein junger Deutschschweizer Dichter nur träumen.
Als ich Alexandre Voisard dann im Landhaus in Solothurn lesen hörte, lebte er schon lange nicht mehr in der Ajoie. Im unabhängigen Kanton Jura hatte ihn vieles enttäuscht, er war über die Grenze nach Frankreich gezogen. Alle paar Jahre habe ich im Gedichtband «Liberté à l’aube» aus dem Jahr 1967 nach Zeilen gesucht, die in Delémont vielleicht intoniert worden waren: Jene von der trunkenen Hoffnung? Oder von den Kathedralen aus Lehm, die tausend Fenster öffnen? Von den Strohdächern und Lumpen? Am liebsten war mir: «J’ai fait à mon pays un chemin / De tendresse dans les éboulis de l’opprobre.» Ich habe meinem Land einen Weg bereitet / Von Zärtlichkeit im Geröll der Schmach.
Im vergangenen Oktober ist auch Alexandre Voisard gestorben. In den Nachrufen ist nachzulesen, was er an der Demo 1967 wirklich rezitiert hat («Ode au pays qui ne veut pas mourir»).
Vor der Baustellenabsperrung in Solothurn kommt aber keine Nostalgie auf. Man sucht auf einer Karte nach den grossen Sälen fürs Nachdenken über Demokratie in Europa (Jonas Lüscher, Marlene Streeruwitz). Das frankofone und frankophile Publikum findet seine kleineren Räume. In einem winzigen, mobilen Studio kommt alles zusammen: Marina Skalova liest Gedichte, begleitet vom Musiker Robert Aeberhard. Deutsch und Französisch erweitert sie durch Russisch. Die Muttersprache sei eine Geheimsprache geworden, heisst es in einem Gedicht. Und im Gespräch mit Felix Münger spricht Skalova von einem «Migrantenkindrussisch». Das ist zur willkommenen Rückzugsposition geworden, hier behauptet sich eine Sprache gegen die Grossmachts- und Kriegssprache. Sie wird lateinisch, nicht kyrillisch geschrieben. Aber all diese Fragen sind dem Deutschen nicht fremd, ruft Skalova in Erinnerung. In Solothurn liest sie in sanftem Ton, von einer Sprache zur andern. Ich meine, «Apparat» zu hören, denke an Apparatschik, aber nein, es geht um den weiblichen Fortpflanzungsapparat, um Menstruation und Scham.
Ob das Landhaus nächstes Jahr fertig umgebaut ist? Die Suche nach einem «Weg von Zärtlichkeit» geht auf jeden Fall weiter. Egal in welchen Räumen: Wenn ich irgendwo Hoffnung schöpfe, dass Leute einander zuhören und ins Gespräch kommen können, dann an solchen Literaturtagen.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin.
Die Veranstaltung mit Marina Skalova ist als Ausgabe der Sendung «Passage» auf Radio SRF Kultur nachzuhören. Erinnerungen an Peter Bichsel (1935–2025) finden sich in WOZ Nr. 12/25.