Auswanderung in die Nostalgie: Oh, wie schön ist Paraguay

Nr. 33 –

Erst nach Zürich ins Aussteigerseminar, dann nach Südamerika in die geschlossene Parallelgesellschaft: Konservative Europäer:innen versuchen, Steuern und gesellschaftlichem Fortschritt zu entfliehen. In Paraguay offenbaren sich die Widersprüche ihres Weltbilds.

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Haus der «Colectividad Alemana» in Hohenau
Das Haus der «Colectividad Alemana» in Hohenau wird für Kulturveranstaltungen oder private Feiern genutzt.

Hans Töpfer braucht ein Floss, um zu seinem Haus zu gelangen. Der deutsche Informatiker hat sich im paraguayischen Hohenau sein eigenes kleines Paradies geschaffen: Etwas ausserhalb vom Ortszentrum hat er mitten in einem Teich eine Insel aufgeschüttet und darauf eine kleine Holzhütte gebaut. «Hier kann ich mich entfalten», sagt Töpfer, während er es sich auf einem Liegestuhl bequem macht. Vor drei Jahren hat er Deutschland verlassen; zu hohe Steuern und ein überregulierender Staat hätten ihn dazu gebracht.

Hier im äussersten Südosten Paraguays, wenige Kilometer von der Grenze zu Argentinien entfernt, hat Töpfer alles gefunden, was er braucht. Ein gutes Klima, wie er sagt, eine halbwegs funktionierende Infrastruktur – und eine lokale Gemeinschaft, die noch immer vom Geist der deutschen und der schweizerischen Siedler:innen geprägt ist, die die Region um 1900 herum kolonisierten.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war überdies hochrangigen Nazis die Flucht nach Paraguay gelungen. Unter ihnen: KZ-Kommandant Eduard Roschmann – der «Schlächter von Riga» – sowie Auschwitz-Arzt Josef Mengele. 1959 wurde Mengele in Paraguay eingebürgert – und lebte in Hohenau.

Klare Rollenbilder

Heute ist Hans Töpfer nicht der Einzige, der in den letzten Jahren hier angekommen ist: Im Zuge der Covid-Pandemie ist Paraguay zu einem beliebten Ziel für europäische Auswander:innen geworden. Jedes Jahr entscheiden sich mehrere Tausend Menschen aus Deutschland, der Schweiz oder auch den Niederlanden dazu, ins südamerikanische Binnenland zu ziehen.

Hans Töpfer sitzt auf einem Traktor
«Hier kann ich mich entfalten»: In Paraguay habe er alles, was er brauche, sagt Hans Töpfer.

Hohenau hat gut 15 000 Einwohner:innen; gleich nebenan liegt Obligado, ein etwa gleich grosses Schwesterstädtchen. Hier sitzt Natalie Klein in einem Café und sagt leicht melancholisch: «Hier ist es wie früher in Deutschland.» Klein, die eigentlich anders heisst, ist im März zusammen mit ihrer Familie in Paraguay angekommen. Zu hohe Mietkosten und Steuern hätten in Deutschland einen zu grossen Teil ihres Lohns verschlungen, sagt sie.

Das war aber nicht der ausschlaggebende Grund, wie sich im Gespräch herausstellt. Sie habe Angst um die Sicherheit ihrer Kinder gehabt, sagt Klein. Und sie klagt über den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland: Mit der Stärkung der Rechte queerer Menschen war sie nicht einverstanden. Den endgültigen Entschluss, Deutschland zu verlassen, habe sie gefasst, als sie eine Werbung gesehen habe, in der sich zwei Männer küssten. «Wie soll ich das meinen Kindern erklären?», fragt Klein und wirkt etwas verloren.

Portraitfoto von Natalie Klein
«Wie früher in Deutschland» fühle sich das Leben in Paraguay an, sagt Natalie Klein. 

Unweit des Ortskerns mit seinen alten Fachwerkbauten schlägt sich die nostalgische Anziehungskraft Hohenaus in einem neueren Einfamilienhausviertel nieder. Frisch gemähter Rasen verströmt den Geruch kleinbürgerlicher Vorstadtidylle. Während Angestellte die Vorgärten und Zufahrtswege reinigen, sind spielende Kinder zu hören, die miteinander Deutsch reden.

«Esperanza» heisst das Viertel, «Hoffnung». Es hat eine eigene Schule. Davor steht Alexander Haseborg, Lehrer und ehemaliger Berufssoldat, der sie gemeinsam mit anderen Hohenauer:innen gegründet hat. Bislang lernen hier ausschliesslich deutschsprachige Kinder. «Wir haben seit diesem Jahr eine staatliche Bewilligung», sagt Haseborg stolz, «davor unterrichteten wir im Homeschooling.» In den Schulräumen hängen Seiten mit spanischer Grammatik und Wörtern in der indigenen Sprache Guaraní an der Wand, daneben selbstgemalte Bibelgeschichten.

Portraitfoto von Alexander Haseborg
Alexander Haseborg war in Deutschland Soldat, in Paraguay will er als Lehrer Kinder vor schlechten Einflüssen schützen.

In Deutschland könne man sich nicht mehr frei äussern, findet Haseborg. «In der Schule konnte ich nicht sagen, dass ich der Überzeugung bin, dass es nur zwei Geschlechter gibt.» Hier hingegen gebe es klare Rollenbilder – und täglichen Bibelunterricht. Gezielt lebe man «getrennt von der westlichen Gesellschaft», um die Kinder vor schlechten Einflüssen zu schützen.

Offensichtlich besteht aber auch mit der hiesigen Gesellschaft wenig Kontakt. Nur die wenigsten der Zugewanderten sprechen halbwegs fliessend Spanisch. Viele leben von ihrem Ersparten, oder sie handeln mit Kryptowährungen. Andere arbeiten weiterhin für europäische Unternehmen oder machen Geschäfte mit Immobilien. «Die Löhne sind hier zu gering», sagt Alexander Haseborg. «Von dem Geld, das ich meinem Gärtner zahle, könnte ich nicht leben.»

Was sich in Paraguay abzeichnet, sind geschlossene Parallelgemeinschaften. Solange das Geld reicht, verspricht der Umzug einen sozialen Aufstieg, der in Europa verwehrt bliebe. Warum aber ist es gerade Paraguay, das die Leute anzieht?

Das gelobte Land

Die Antwort findet sich online, wo selbsternannte «Expert:innen» den Umzug ins gelobte Land bewerben. «Paraguay: Der einfachste Steuerwohnsitz der Welt?», heisst es etwa auf dem Portal «Staatenlos» des deutschen Unternehmers Christoph Heuermann, wo für 2500 Euro Unterstützung angeboten wird – etwa wenn es um Behördengänge geht oder um Tricks, um möglichst keine Steuern zahlen zu müssen. Eine andere Website wirbt mit Renditen von zehn bis zwölf Prozent auf Investitionen in Paraguay.

Viele der involvierten Organisationen haben einen Bezug zur Schweiz. Während etwa «Staatenlos» eine schweizerische Webadresse nutzt, fällt insbesondere Zürich als Ort für Seminare auf, die sich an potenzielle Auswander:innen richten. Auch Natalie Klein hat vor ihrer Ausreise mehrere entsprechende Angebote genutzt. «Die Beratung ist gut», sagt sie. «Die wissen, wovon sie sprechen.»

All das geniesst im rechtskonservativ und wirtschaftsliberal regierten Paraguay viel politischen Rückhalt. Gemäss offiziellen Zahlen sind in den letzten zwanzig Jahren über eine halbe Million Menschen aus Paraguay ausgewandert – mehrheitlich in Richtung Argentinien, USA und Spanien. Nun bewirbt die Regierung das Land als attraktives Einwanderungsziel für Wohlhabende.

In der etwa 270 Kilometer von Hohenau entfernten Hauptstadt Asunción warten in der etwas heruntergekommenen Empfangshalle des Migrationsdiensts an einem Dienstagmorgen Dutzende Personen auf den Aufruf ihrer Nummer. Neben Deutsch ist etwa auch Russisch oder Tschechisch zu hören. Ein paar Stockwerke weiter oben schaut Leila Olavarrieta, ein Mitglied des Behördendirektoriums, auf einen Spickzettel mit aktuellen Zahlen. «Seit 2018 haben sich 10 756 deutsche Staatsbürger und weitere 689 aus der Schweiz in Paraguay angesiedelt», sagt sie.

Migrant:innen würden Geld mitbringen und die Wirtschaft ankurbeln, erklärt die Beamtin. «Unser Präsident Santiago Peña sucht Menschen, die hier ihr Geld anlegen oder sich niederlassen und mit Arbeit das Land fördern möchten», so Olavarrieta. Deren Integration in die paraguayische Gesellschaft blickt sie gelassen entgegen. Zwar gebe es geschlossene Communitys, in denen kaum Spanischkenntnisse vorhanden seien, «aber wir sind sicher, mit der Zeit werden sie sich integrieren». Schliesslich habe man dieselbe Erfahrung schon mit den Siedler:innen im 19. Jahrhundert gemacht.

Alles selber machen

Obwohl Paraguay im lateinamerikanischen Vergleich niedrige Mord- und Strassenkriminalitätsraten aufweist, blüht im Land die organisierte Kriminalität. Für Journalist:innen ist es ein hartes Pflaster; seit 2005 wurden neunzehn Medienschaffende ermordet. US-Behörden schätzen, dass fast ein Drittel von Paraguays Bruttoinlandprodukt durch Geldwäsche generiert wird – rund fünfzehn Milliarden US-Dollar jährlich. Nicht nur europäische Freiheitsliebende sind hier willkommen, sondern etwa auch Gelder der islamistischen Hisbollah aus dem Libanon, wie die USA mehrfach kritisiert haben.

Den Grund für das tolerierte Treiben ortet Wirtschaftswissenschaftler Fernando Masi, der einem unabhängigen Wirtschaftsinstitut in Asunción vorsitzt, in der politischen Geschichte des Landes. Während der Diktatur von Armeegeneral Alfredo Stroessner von 1954 bis 1989 hätten die Funktionär:innen der regierenden Colorado-Partei den Staat als Selbstbedienungsladen genutzt. «Militärs und Unternehmen erhielten völlige Freiheiten für wirtschaftliche Aktivitäten, ohne Regulierung oder Steuern», sagt Masi. Wer die richtigen Beziehungen zur Regierung habe, könne bis heute ohne jegliche staatliche Kontrolle wirtschaften.

Erst in den letzten Jahren seien kleinere Reformen umgesetzt worden, sodass die Steuerlast heute offiziell bei etwa elf Prozent liege – ohne echte Progression bei steigenden Einkommen. «Folge der fehlenden Steuereinnahmen sind unzureichende Ausgaben für Soziales», so Masi. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser seien unterfinanziert.

Löschfahrzeug der Feuerwehr Hohenau
Das Löschfahrzeug kommt aus Deutschland, die Feuerwehrleute haben deutsche Namen.

In Hohenau wird die prekäre Lage etwa bei der freiwilligen Feuerwehr greifbar. Sie wurde in den achtziger Jahren von den Nachfahren deutscher Siedler:innen gegründet. Die Feuerwehrleute Egon Ziesmann, Roland Pohler und Emilio Wachholz sitzen in ihrem Büro und trinken gemeinsam Mate.

Ihre Arbeit werde von offizieller Seite nur mangelhaft unterstützt, sagt Schatzmeister Wachholz. «Etwa vierzig Prozent unserer monatlichen Ausgaben zahlt der Zentralstaat», erklärt er, «der Rest kommt aus Mitgliederbeiträgen, solidarischen Aktivitäten und Spenden.» Trotzdem würden sie weitermachen, sagt Ziesmann, «wenn du es nicht machst, macht es niemand».

Die drei Feuerwehrmänner stammen alle aus deutschsprachigen Familien, die einst aus Armut Europa verlassen hatten und über Brasilien nach Paraguay eingewandert waren. Wie viele andere lateinamerikanische Länder hat Paraguay einst freizügig Ländereien, die zuvor von der nomadisch lebenden indigenen Bevölkerung genutzt worden waren, an Europäer:innen vergeben. Auch in Hohenau entwickelten sich getrennte Gesellschaften. «Es herrschte Rassismus», sagt Pohler. Gemischte Ehen seien lange unvorstellbar gewesen. Die drei sind sich allerdings einig: Zum Glück habe man sich in den letzten vierzig Jahren geöffnet. Umso kritischer stehen sie den isolierten Communitys gegenüber, die gerade neu entstehen.

Schiffscontainer, welcher als Lagerraum genutzt wird
Das moderne Pendant zum Überseekoffer: Hab und Gut 
reist im Container an.

Strassenpatrouillen und Betrügereien

Zurück auf der Insel von Hans Töpfer. Auf seinem Holzhaus hat er eine Kamera montiert, mit der er die Umgebung überwacht: «Ja, hier muss man auf die Sicherheit aufpassen.» Bis vor wenigen Jahren hätten viele Auswander:innen ihr Bargeld zu Hause gelagert – und seien Opfer von Diebstählen geworden. Darauf habe man reagiert, eine Sicherheitsgruppe ins Leben gerufen. Seither gebe es keine Probleme mehr. Auch im Esperanza-Viertel wird nachts der Zugang gesperrt, und Alexander Haseborg sagt: «Die Männer im Dorf gehen regelmässig auf Streife.» Bei Dunkelheit scheint die lateinamerikanische Realität die europäischen Ausreisser:innen stärker zu beängstigen, als sie tagsüber zugeben mögen.

Die nächtlichen Patrouillen schützen die Auswander:innen aber nicht vor den Betrügereien durch ihre eigenen Landsleute. Es häufen sich Geschichten von überteuerten Autos und Häusern, die Neulingen bei der Ankunft angedreht werden, von Investitionen, zu denen «Expert:innen» raten, die sich aber als Flops erweisen. «Man muss sehr aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wird», sagt Töpfer. Besonders von jenen, die während der Pandemie angekommen seien, hätten so manche ihr Erspartes bereits aufgebraucht. Sie seien zurückgekehrt – nicht wenige wohl in die Arme der europäischen Sozialstaaten.

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