Indigene in Chile: Wo ist Julia Chuñil?

Nr. 20 –

Eine Frau verschwindet im Süden Chiles in einem Wald. Die Suche nach ihr führt zum Konflikt um das Land der Mapuche und zu einem Unternehmer mit deutschen Wurzeln.

Diesen Artikel hören (12:21)
-15
+15
-15
/
+15
Protest in der Hauptstadt Santiago de Chile
Der Staat soll die Suche nach Julia Chuñil endlich beschleunigen: Protest in der Hauptstadt Santiago de Chile. Foto: Lucas Aguayo Araos, Getty

An einem Freitag im vergangenen November geht Julia Chuñil in den Wald. Cholito, ein Welpe mit schwarzem Fell und einem weissen Fleck auf der Brust, tapst neben ihr her. Mit einer Machete schlägt sie die dichten Äste zur Seite. Hier im Naturwald im Süden Chiles wachsen leuchtend grüne Scheinbuchen, die bis zu dreissig Meter hoch werden, wilde Sträucher mit tiefschwarzen Maquibeeren und der Canelo, der als heiliger Baum der indigenen Mapuche gilt. Für die 72-Jährige ist dieser Wald wie ein Zuhause, fast jeden Tag durchstreift sie ihn. Doch dieses Mal wird sie ihn nicht mehr verlassen.

«Sie liebte den Wald», sagt Lyssette Sánchez fünf Monate später, während sie im Kräutergarten ihrer vermissten Grossmutter Minze, Oregano und Matico pflückt. «Sie hat mir alles über Heilpflanzen beigebracht.» An einem Hagebuttenstrauch bleibt sie stehen. «Aus diesen Früchten hat sie Marmelade gekocht.» Die 23-Jährige wirft sich das lange, schwarze Haar über die Schulter. Einmal hatte sie es blond gefärbt – ihrer Grossmutter gefiel das nicht. «Sie sagte, ich solle stolz auf mein Haar sein. Also habe ich es wieder schwarz gefärbt.»

Als Kind sei sie wegen ihrer indigenen Herkunft verspottet worden. «Indianerin», riefen die Nachbarskinder. «Aber meine Grossmutter hat mir beigebracht, mich nicht zu schämen. Heute bin ich stolz, Mapuche zu sein.»

Die Mapuche sind die grösste indigene Gruppe Chiles. Ihr ursprüngliches Territorium, das sie Wallmapu nennen, erstreckt sich über die Regionen Araucanía, Bío-Bío, Los Ríos und Los Lagos im Süden Chiles. Generationen von Julia Chuñils Vorfahren lebten einst hier in der Gemeinde Máfil in der Nähe von Valdivia, etwa 800 Kilometer südlich von Chiles Hauptstadt Santiago.

«Meine Mutter wurde entführt»

Julia Chuñils Mutter starb, als sie vier Jahre alt war, ihr Vater gab sie in die Obhut einer fremden Familie. Dort wuchs sie ohne Liebe auf, sie musste auf dem Boden unter dem Tisch oder draussen bei den Tieren schlafen. Mit sechzehn Jahren verliess sie das Haus und zog nach Valdivia, um Geld zu verdienen. Sie verkaufte gebrauchte Kleidung, Gemüse und Kohle. Jahre später kehrte sie nach Máfil zurück, wo sie die Präsidentin der indigenen Gemeinde Putreguel wurde.

«Sie war ein sehr freundlicher und fürsorglicher Mensch, sie hat immer den Nachbarn geholfen», sagt Jaime Raipan, der in einer Mapuchegemeinde in der Nähe lebt. 2015 unterstützte er die Leute von Putreguel dabei, ein mehr als 900 Hektaren grosses Grundstück zu besetzen – Land, das einst den Vorfahren von Julia Chuñil gehört haben soll. Auf diesem Grundstück befindet sich der Wald, in dem sie zum letzten Mal gesehen wurde. Es handelt sich um den letzten verbliebenen Naturwald in der Umgebung, heute fast vollständig von Forstplantagen eingeschlossen.

Anfänglich beteiligten sich rund zwanzig Familien an der Besetzung, doch mit der Zeit zogen sich alle zurück, bis auf Julia Chuñil. Sie lebte fortan in einer kleinen Holzhütte, pflanzte im Garten Gemüse an und wusch sich im Fluss. Die meiste Zeit verbrachte sie mit ihren Pferden, Schweinen und Hühnern. Raipan vermutet, dass der offizielle Eigentümer des Grundstücks, ein Unternehmer mit deutschen Wurzeln, die anderen Familien bezahlte, damit sie das Gelände verlassen. Auch Julia Chuñil habe er vertreiben wollen – doch sie sei die Einzige gewesen, die sich weigerte zu gehen.

Als Julia Chuñil nicht aus dem Wald zurückkehrte, meldeten ihre Kinder sie am 10. November 2024 bei der Polizei als vermisst. Tagelang durchkämmten Nachbar:innen, Polizei und Feuerwehr die Umgebung. Doch von Chuñil fehlte jede Spur. «Meine Mutter kannte den Wald in- und auswendig. Es ist unmöglich, dass sie sich verlaufen hat», sagt ihr ältester Sohn Pablo San Martín Chuñil und zeigt mit dem Finger auf den Wald, in dem seine Mutter verschwunden ist. Gemeinsam mit seiner Nichte Lyssette ist er hierhergekommen, um Abschied zu nehmen. Dass Julia Chuñil damals hingefallen und verunglückt sein könnte, hält ihr Sohn deshalb für unwahrscheinlich. Auch der Welpe Cholito ist spurlos verschwunden. «Meine Mutter wurde entführt», sagt Pablo San Martín Chuñil mit fester Stimme.

Die Kinder von Julia Chuñil berichteten der Polizei, dass ihre Mutter vor ihrem Verschwinden bedroht worden war. Sie besitzen Aufnahmen eines Telefongesprächs, das diese Drohungen belegt. Der Eigentümer des Grundstücks habe ihnen auch Geld angeboten, um ihre Mutter dazu zu bewegen, das Land zu verlassen. Einem Nachbarn habe der Unternehmer umgerechnet fast 3000 Franken angeboten, um eine Brücke zu zerstören, über die Julia Chuñil zum Wald gegangen sei, sagt die Familie.

Im Garten dieses Nachbarn fand die Polizei bei den Ermittlungen ein frisches Grab in menschlicher Grösse, wie die chilenische Zeitung «El Ciudadano» berichtete. Als sie die Erde entfernten, stiessen sie auf ein totes Kalb, eingewickelt in eine Plastiktüte. Gegenüber «El Ciudadano» gibt der Nachbar zu, an der Brücke «interveniert» zu haben, streitet aber ab, Geld dafür erhalten zu haben.

Der offizielle Eigentümer des Grundstücks, auf dem Julia Chuñil lebte, um den Naturwald zu beschützen, heisst Juan Carlos Morstadt Anwandter. Die Familie Anwandter liess sich im 19. Jahrhundert im Süden Chiles nieder, als die Regierung die Ansiedlung europäischer Einwander:innen aktiv förderte, insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum. Der chilenische Staat überschrieb der Familie kostenlos mehr als 600 Hektaren Land – Land der indigenen Mapuche.

So beschreibt es der Historiker Manuel Lagos Mieres in seinem Buch «Colonos a sangre y fuego», das von der Geschichte der deutschen und Schweizer Siedler:innen in Chile handelt. Er zeigt auf, wie sie sich über Generationen hinweg Land der Mapuche aneigneten, unter anderem durch betrügerische Kaufverträge. Über den Landbesitz gelangten die Siedler:innen an wirtschaftliche und politische Macht.

Angriffe gegen Aktivist:innen

Ende November 2024 kontaktierte Sebastián Benfeld von der nichtstaatlichen Organisation Escazú Ahora die Familie von Julia Chuñil. Die NGO dokumentiert Angriffe auf Umweltschützer:innen in Chile und setzt sich für die Umsetzung des Escazú-Abkommens ein, das erste regionale Umweltabkommen in Lateinamerika und der Karibik. Es verpflichtet Staaten unter anderem dazu, Umweltaktivist:innen zu beschützen. Chiles Präsident Gabriel Boric unterzeichnete das Abkommen 2022.

Weltweit werden in Latein­amerika die meisten Umweltschützer:innen ermordet. Obwohl die Zahlen in Chile deutlich tiefer sind als in anderen Ländern wie Kolumbien und Brasilien, hat Escazú Ahora hier 47 Angriffe gegen 27 Aktivist:innen registriert. Auch Julia Chuñil befindet sich auf dieser Liste. «Sie hat den Naturwald beschützt, der sich wegen der Forstindustrie in ständiger Gefahr befindet», sagt Sebastián Benfeld, Gründer und Leiter der Organisation. «Deshalb ist Julia Chuñil eine Umweltschützerin.» Die Organisation unterstützte die Familie bei einer Strafanzeige und stellte ihr eine Anwältin zur Verfügung. Die NGO drängte die Regierung zudem, das Escazú-Abkommen konsequent umzusetzen. «Für den Schutz von Umweltaktivist:innen hat die Regierung bisher nichts unternommen», sagt Benfeld.

Boric hatte den Mapuche im Präsidentschaftswahlkampf 2021 tiefgreifende Veränderungen versprochen. Die Mapuche fordern die Rückgabe der Gebiete, die ihnen der chilenische Staat im 19. Jahrhundert gewaltsam entzogen hat und die bis heute in den Händen von Konzernen und Grossgrundbesitzer:innen sind. Doch dieser Prozess verläuft schleppend, da das Budget der Behörde für den Landkauf viel zu gering ist, um den Forderungen der Mapuche gerecht zu werden. Deshalb greifen einige zu radikaleren Mitteln: Sie besetzen Grundstücke und verteidigen sie teilweise mit Waffen oder zünden landwirtschaftliche Maschinen und Lastwagen der Unternehmen an.

Als Reaktion auf die anhaltenden Konflikte verhängte Präsident Boric kurz nach seinem Amtsantritt 2022 den Ausnahmezustand über die Regionen, in denen die Mapuche leben. Seitdem patrouilliert das Militär auf den Strassen, demokratische Grundrechte sind eingeschränkt. Dieser Zustand hält bis heute an – viele sehen darin ein gebrochenes Wahlversprechen. Im Juni 2023 setzte der Präsident eine «Kommission für Frieden und Verständigung» ein, die Lösungsvorschläge für den Konflikt zwischen dem chilenischen Staat und den Mapuche erarbeiten sollte. Zu den Mitgliedern gehörten Vertreter:innen des gesamten Parteienspektrums sowie der Mapuche und der Unternehmer:innen.

Am vergangenen 10. Dezember sprach Präsident Gabriel Boric zum ersten Mal bei einer Fernsehansprache über das Verschwinden von Julia Chuñil. Die Regierung schickte anschliessend Drohnen und ein Flugzeug der Luftwaffe nach Máfil, um die Suche zu unterstützen.

Druck auf Präsidenten steigt

Am 30. Januar durchsuchte die Polizei neun Stunden lang das Haus von Julia Chuñils Tochter. «Sie sind mit Maschinenpistolen gekommen», erinnert sich Pablo Chuñil. Die Kinder von Julia Chuñil machen sich Sorgen, dass ihnen jetzt die Schuld zugeschoben werden könnte. «Wir haben immer mit den Ermittlern kooperiert. Warum kommen sie dann mit Waffen in unser Haus?», fragt sich Pablo Chuñil. «Wir verstehen das nicht.» Sechsmal hat die Polizei das Haus der Familie durchstöbert – den Wohnsitz des Unternehmers Juan Carlos Morstadt Anwandter bisher kein einziges Mal. Er ist zudem die einzige Person, die ihre Aussage gegenüber der Polizei verweigert hat.

Im April findet Lyssette Sánchez, Julia Chuñils Enkeltochter, zwei Tiere ihrer Grossmutter tot auf: ein Schwein mit Schusswunden und ein Pferd, das vermutlich vergiftet wurde.

Anfang Mai übergab die Kommission für Frieden und Verständigung dem Präsidenten ihre Abschlusserklärung. Sie empfiehlt darin unter anderem ein neues System für Landrückgaben an die Mapuche. Nur eines der Mitglieder der Kommission stimmte gegen die Erklärung – der Vertreter der Unternehmer:innen, der befürchtet, dass diesen Ländereien entzogen werden könnten. Am 8. Mai – sechs Monate nach Chuñils Verschwinden – protestieren Menschen in verschiedenen chilenischen Städten wie Santiago, Valparaíso und Concepción. «Wo ist Julia Chuñil?», rufen sie und schwenken die Wuñelfe-Fahne der Mapuche.

Präsident Gabriel Boric wird entscheiden müssen, wie er mit dem Vorschlag der Kommission umgeht. Gleichzeitig steigt der Druck auf ihn, die Suche nach Julia Chuñil zu beschleunigen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kommen nur langsam voran. Von Julia Chuñil und dem Welpen Cholito fehlt weiterhin jede Spur.

Lyssette Sánchez steckt ihre Nase in die Kräuter, die sie im Garten von Julia Chuñil gesammelt hat. Der Geruch erinnert sie an ihre Grossmutter. Es ist das letzte Mal, dass sie durch den Garten geht. Das Grundstück wird nun wieder an seinen offiziellen Eigentümer übergeben: den Unternehmer Juan Carlos Morstadt Anwandter.