Die Welt dreht sich: Die Nicht-Idee

Nr. 45 –

Rebecca Gisler sieht, was sie nicht anschaut

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Mein richtiger Beruf ist zu schreiben. Es ist das, was ich gerne tue. Wie wertvoll die Texte sind, die ich schreibe, weiss ich nicht, auch kann ich damit nicht meinen Lebensunterhalt verdienen. Trotzdem weiss ich, dass das Schreiben mein richtiger Beruf ist. So wie auch das Muttersein. Nach dem ersten Roman – wie nach dem ersten Kind – folgt oft die Frage: Wann kommt der/das zweite? Da ich mich in letzter Zeit immer wieder an Mondänitäten beteiligt habe, wurde die Frage nach dem zweiten Roman zunehmend häufiger gestellt.

Vor kurzem schrieb mir ein Freund, dass ihm ein Werkjahr zugesprochen worden sei. Er könne sich glücklich schätzen, meinte er, zumal das Kulturbudget der Stadt Zürich nur zwei Prozent des Gesamtbudgets ausmache. Ich habe im Moment zwei Schreibprojekte: zwei Texte, die ich mit mir herumtrage, über die ich nachdenke, mir abends im Bett vorstelle, wie sie einmal aussehen könnten, wenn sie irgendwann geschrieben wären. Dass ich auch so ein Werkjahr gebrauchen könnte, habe ich dem Freund geantwortet, um das, was ich als meinen richtigen Beruf bezeichne, überhaupt richtig ausüben zu können.

Das erste Mal, dass ich mit meiner Kunst Geld verdient habe, war 1999. Damals gewann ich den ersten Preis und hundert Franken, bei einem Zeichnungswettbewerb zu Bertrand Piccards Weltreise im Heissluftballon. Ich erinnere mich vage an diese Zeichnung, die die Arche Noah und Piccards Heissluftballon zu einem einzigen Gebilde verschmelzen liess. Trotz dieses kleinen Erfolgserlebnisses bin ich überzeugt, dass es gut ist, dass ich heute nicht mehr zeichne. Jedenfalls nicht beruflich. Obwohl ich neuerdings sportliches Zeichnen betreibe: Dabei geht es darum, so schnell wie möglich ein einfaches Sujet – Sonne, Haus, Blume, Herz – zu zeichnen und zu benennen, bevor mir die Stifte aus der Hand gerissen werden.

Vielleicht sind die wahren Berufe jene, für die man eben nicht bezahlt wird. Man tut etwas, und daraus folgt das Unerwartete. Man glaubt zu zeichnen, aber in Wirklichkeit betreibt man Sport. So wie ich manchmal glaube zu schreiben und sich der Text dann aber unwissend, fast von selbst schreibt. Dann, wenn es mir gelingt, diese laute, fordernde Stimme, die wir vielleicht alle in uns tragen, ein wenig zu beruhigen und abzulenken, kann das Unwissende, das Unerwartete geschrieben werden: nicht die Idee, sondern die Nicht-Idee.

Die Nicht-Idee ist nicht stolz und bescheiden zugleich wie eine Idee, die weiss, was sie will und worauf sie hinausläuft. Im Gegenteil, die Nicht-Idee ist gleichgültig. Die Nicht-Idee ist nichts Besonderes. Sie ist der Kaffeefleck unter dem Esstisch, sie ist ein gelbes Herbstblatt, sie ist die leere Haushaltspapierrolle, das vergessene Wattestäbchen neben dem Mülleimer, das laute Niesen des Nachbarn. Sie ist das, was ich sehe, obwohl ich etwas anderes angeschaut habe.

Als ich mit sieben Jahren diesen Impuls hatte, Bertrand Piccards Heissluftballon mit ein paar Dutzend Tieren zu füllen, wusste ich nicht, dass ich dafür Geld bekommen würde, allerdings erhielt ich es erst, als ich volljährig war. Bis dahin war das Geld längst vergessen.

Aber vielleicht schweife ich ab. Ich wollte doch über das Muttersein und das Schreiben schreiben. Denn genau in diesen meinen zwei richtigen Berufen kann man das Unerwartete nicht nicht-schön finden, wenn man das Glück hat, sich in seiner Gegenwart zu befinden.

Rebecca Gisler ist Autorin und manchmal auch ganz viel anderes.