Machtkampf in Russland: Doch keine Brüder
Immerhin zwei Dinge lassen sich nach diesem Wochenende der Wirren mit Gewissheit sagen: Im Gedächtnis bleiben wird das absurd-komische Bild eines Wagner-Panzers, der in Rostow am Don in einer Zirkuseinfahrt feststeckt. Ins Wanken gebracht haben die Ereignisse indes das Herrschaftssystem, das Präsident Wladimir Putin während mehr als zwanzig Jahren aufgebaut hat – es ist wohl dessen grösste Krise. Ein Russland ohne den Langzeitherrscher ist schlagartig vorstellbar geworden.
Jewgeni Prigoschin, Exkrimineller und als rechtsextremer Warlord Chef der für grausame Kriegsverbrechen berüchtigten paramilitärischen Gruppe Wagner, probt den bewaffneten Aufstand. Unzufrieden mit der militärischen Führung und dem Verlauf des Krieges gegen die Ukraine, startet er einen, wie er es nennt, «Marsch der Gerechtigkeit» auf die russische Hauptstadt – und überrennt im Nu zwei Millionenstädte, er nimmt die lokalen Armeestützpunkte praktisch ohne Gegenwehr ein.
Als er sich nicht einmal mehr 200 Kilometer vor Moskau befindet – das nur schlecht gegen einen potenziellen Angriff geschützt ist –, meldet sich wie aus dem Nichts der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko und schliesst mit dem Wagner-Chef einen Deal ab, dessen Details nur in Ansätzen bekannt sind. Prigoschin bläst den versuchten Putsch ab und begibt sich ins Exil nach Minsk. Über ein Dutzend Soldaten bezahlen den Aufstand mit dem Leben. Ansonsten endet der Spuk so plötzlich, wie er begonnen hat.
Bei der Einschätzung der Ereignisse bleiben viele Fragen offen: Hatte Prigoschin, der seine Meuterei kaum spontan begann, Kompliz:innen im russischen Geheimdienstapparat? Wenn ja, was sagt dies über einen potenziellen Machtkampf innerhalb der Eliten aus? Oder kehrte er deshalb um, weil er weder lebensmüde noch bereit war, den Revolutionär zu spielen, wie verschiedene russische Expert:innen vermuten? Weil er zwar Putins Aufmerksamkeit suchte, ihn aber eigentlich nicht stürzen wollte?
Der Präsident hatte den Wagner-Chef in seiner hasserfüllten, zornigen Ansprache am Samstag als «Verräter» bezeichnet – in einer Gedankenwelt zwischen Mafia und Geheimdienst das schlimmste aller Attribute – und den einst treuen Diener damit zum Abschuss freigegeben. Um seine Haut zu retten, blieb Prigoschin wenig anderes übrig, als einzulenken. Sichtbar wurde durch dieses Fenster in den Machtzirkel aber auch die Panik im Kreml.
Zum Verhängnis wurde Putin letztlich sein Führungsstil: Statt auf staatliche Strukturen baute er auf persönliche Beziehungen und Loyalitäten. Dank der gemeinsamen Zeit in St. Petersburg stieg Prigoschin zum reichen Geschäftsmann auf. Putin wiederum liess ihn seine Kriege führen, in Afrika, im Nahen Osten und nun in der Ukraine. Mit dem abrupten Ende dieser Verbindung, dem Vertrauensbruch des Wagner-Chefs, wussten Behörden und Propagandist:innen nicht umzugehen.
Den russischen Eliten, vor allem jenen im Geheimdienst- und Armeeapparat, dürften die neuen Risse im System Putin nicht entgangen sein. Sie wissen nun, dass es klüger ist, sich bei Machtkämpfen rund um den Präsidenten still zu verhalten, um nicht selbst hineingezogen zu werden. Bestärkt fühlen dürfte sich die extreme Rechte, die zumindest in Teilen die Wagner-Rebellen unterstützte. Endgültig klar geworden ist nämlich, dass der dominante Verhaltenskodex in russischen Machtzirkeln rabiaten Mafiaregeln folgt – und einer Strassenlogik, wie sie schon in den Neunzigern der Film «Brat» («Bruder») von Regisseur Alexei Balabanow so treffend beschrieb.
Auch wenn die Folgen noch schwer abschätzbar sind: Für Russland verheisst das Wochenende der Wirren nichts Gutes. Es könnte eine Warnung sein, dass das Regime nicht still implodieren, sondern gewalttätig zerfallen wird. Noch düsterer dürfte es für jene werden, die sich dem Kreml mutig entgegenstellen. Denn auch eine dritte Folge der Meuterei ist evident: Ein verunsicherter Putin, der sich von seinen Verbündeten betrogen fühlt, wird nur noch härter gegen seine Gegner:innen vorgehen.