Syriens Zukunft: Auf der Strasse der Befreiung

Nr. 49 –

Vor einem Jahr wurde der syrische Machthaber Baschar al-Assad durch Rebellentruppen gestürzt. Wo steht das kriegsgebeutelte Land heute? Eine Reise von Idlib via Aleppo nach Homs, zu Menschen, die für eine Zukunft kämpfen.

Verkehr auf der wiedereröffneten Strasse zwischen Idlib und Aleppo
Hier ging lange nichts mehr: Die wiedereröffnete Strasse zwischen Idlib und Aleppo.
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Wie oft hatte Abdulhamid al-Sakka diesen Satz schon gehört. «Salam alaikum, es gibt Arbeit», sagte die Stimme am Telefon. Es war ein Abend Ende November 2024, als Sakka zu Hause in seiner Wohnung in der syrischen Provinz Idlib den Anruf bekam. Er legte seine Kampfmontur an und machte sich bereit. Er dachte, er wisse, was jetzt kommt: Sie würden ihn mit dem Auto abholen, für zwei, drei Tage auf Mission schicken, bevor er wieder nach Hause zurückkehren würde.

An diese Routine hatte sich der Kämpfer der damaligen Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) längst gewöhnt. Seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien dreizehn Jahre zuvor hatte er mit verschiedenen Rebellengruppen gegen das Assad-Regime gekämpft. Dabei wurde das Gebiet, das die Rebellen kontrollierten, immer kleiner: Über die Jahre hinweg eroberte das Assad-Regime Stück für Stück die Rebellengebiete zurück, bis die Rebellen im Nordwesten des Landes eingeschlossen waren. Deswegen hatte Sakka, der dennoch nicht aufhörte zu kämpfen, die Hoffnung auf einen Sieg schon lange verloren.

Doch dann kam es anders. An jenem Abend fuhr seine Einheit in Richtung Osten. Immer weiter, bis in ein Gebiet, das Sakka nicht kannte. Erst da erfuhr er das Ziel ihrer Mission: Aleppo. Die Offensive, die elf Tage später zum Sturz des Assad-Regimes führen sollte, hatte begonnen. In wenigen Tagen eroberten die Kämpfer die Stadt Aleppo und stiessen weiter Richtung Süden vor. Sie trafen kaum auf Widerstand. Als sie die Ausläufer seiner Heimatstadt Homs erreichten, rief Sakka seine Mutter an. Nach dreizehn Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, sagte er: «Ich bin ganz in deiner Nähe.» Am nächsten Morgen war das Assad-Regime gestürzt.

Abdulhamid al-Sakka steht vor einem Hauseingang im Viertel Baba Amr
«Als das Assad-Regime gestürzt wurde, war das die grösste Freude, die ich in meinem Leben gespürt habe»: Abdulhamid al-Sakka in Baba Amr, einem Viertel von Homs.

Abdulhamid al-Sakkas Geschichte, die ihn von seiner Heimat Homs ins Exil in Idlib führte und schliesslich wieder zurück nach Hause, ist eng verknüpft mit der Geschichte der syrischen Revolution: die mit viel Hoffnung begann, die so brutal zunichtegemacht worden war, bis sie ihr Ziel, den Sturz des Assad-Regimes, nach dreizehn Jahren in nur elf Tagen doch noch erreichte.

Fast ein Jahr später haben wir die Route des Kämpfers Sakka noch einmal bereist: von Idlib, wo der jetzige Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa bereits Jahre vor dem Sturz des Regimes angefangen hatte, eine Zivilverwaltung aufzubauen, über die einstige Wirtschaftsmetropole Aleppo nach Homs – wo Sakka heute lebt und wo die Konflikte zwischen Sunnit:innen und Alawit:innen seit dem Umsturz die grösste Gefahr für die Sicherheit sind. Es sind zentrale Orte, um zu verstehen, wo Syrien heute, ein Jahr nach dem Sturz des Diktators, steht. Denn eins ist klar: Das Ende des Assad-Regimes war die wichtigste Voraussetzung, dass das Land die Chance auf eine Zukunft hat. Die grosse Frage seither lautet: welche?

Raketeneinschlag im Elternhaus

Oktober 2025, es ist fast ein Jahr her, seit Sakka in seine Heimatstadt Homs zurückgekehrt ist. Nun sitzt der Mann Anfang dreissig mit stechend blauen Augen und einem hellbraunen Vollbart im spärlich belichteten Wohnzimmer seiner Wohnung im Quartier Baba Amr in Homs. Das Zimmer ist frisch gestrichen, er sitzt auf einer der dünnen Matratzen. In diesem Haus wuchs Sakka auf, bevor er während des Aufstands 2011 gezwungen war, in den Untergrund zu gehen und seine Mutter zurückzulassen. «Ich und meine Brüder haben uns jeweils ins Haus geschlichen, um unsere Mutter zu besuchen.» Später floh er ins Umland von Homs, bevor er auch von dort vertrieben wurde, nach Idlib. Einer seiner Brüder wurde bei einem Bombenangriff getötet, der andere floh in die Türkei. Sakka aber blieb in Idlib. Er wollte Syrien nicht verlassen. Er kämpfte weiter.

Inzwischen leben Sakka, seine Frau und seine Kinder wieder bei seiner Mutter im Elternhaus. Die Räume im Erdgeschoss hat er in den letzten Monaten renoviert und eingerichtet. Nur der obere Stock ist noch immer eine Ruine – in der Decke des einen Raumes klafft ein riesiges Loch an der Stelle, wo einst eine Rakete der syrischen Armee eingeschlagen hat.

Geplagtes Land

Karte von Syrien und den Nachbarländern
Karte: WOZ

Das Viertel Baba Amr war eines der ersten Gebiete in Syrien, die sich 2011, fast geschlossen, gegen das Assad-Regime erhoben. Und es ist eines, das schwer unter der Gewalt durch das Regime gelitten hat: Fast das ganze Viertel wurde durch die Bombardements der syrischen Luftwaffe zerstört, Tausende Menschen wurden verhaftet, fast alle Bewohner:innen vertrieben.

Als Sakka von jenem Tag erzählt, an dem das Assad-Regime nach fünfzig Jahren Herrschaft und dreizehn Jahren Krieg gestürzt wurde, kommen ihm die Tränen. «Es war die grösste Freude, die ich in meinem Leben gespürt habe», sagt er. «Nicht nur für uns, für das ganze Land. Wir haben sehr gelitten.»

Idlib: Das Experiment

Rund 150 Kilometer nördlich von Homs, im Zentrum der Stadt Idlib, stauen sich die Autos. Der Verkehr steht still, die Luft stinkt nach Abgasen. Die Strasse ist gesäumt von Schnellrestaurants, Geschäften und Wechselstuben. Einst war die Region Idlib eines der vernachlässigten Gebiete in Syrien – die Zentren lagen anderswo: in Damaskus, Aleppo oder Homs, in den Küstenstädten Latakia oder Tartus.

Heute lassen die zahlreichen Bewohner:innen Idlib überquellen. Die Region ist so entwickelt wie keine andere im Land: Die Strassen werden gewartet, es gibt durchgehend Strom, Shoppingmalls und Arbeitsmöglichkeiten, die Mieten sind eher bezahlbar als anderswo im Land. Das liegt vor allem an einem Mann, der einst eine der radikalsten islamistischen Gruppen innerhalb der syrischen Opposition anführte – die Al-Nusra-Front – und der es im Lauf der Jahre geschafft hat, seine Macht innerhalb der Opposition zu konsolidieren und in Idlib quasistaatliche Strukturen aufzubauen: Ahmed al-Scharaa. Wenn man der Frage nachgehen will, wie Syrien künftig unter Scharaa regiert werden wird, ist das Experiment in Idlib der letzten paar Jahre vielleicht der wichtigste Anhaltspunkt.

Gäste im Restaurant Sulh in Idlib
Berühmt nach einem PR-Stunt von Rebellenführer Ahmed al-Scharaa, heute Präsident Syriens: Das Restaurant Sulh in Idlib.

Das «Sulh» liegt in einer Seitenstrasse. Durch die Scheiben im Erdgeschoss des Restaurants sieht man die voll besetzten Tische, die Kunden: ausschliesslich Männer. Wir setzen uns in den ersten Stock an einen grosszügigen Glastisch, Angestellte ziehen hinter uns einen Vorhang. Hier oben ist die Familienabteilung – in Idlib, anders als im Rest von Syrien, sind alle Restaurants geschlechtergetrennt.

Das «Sulh» ist nicht nur wegen seines guten Essens ein beliebter Treffpunkt. 2020 wurde das Restaurant berühmt, nachdem der Rebellenführer Ahmed al-Scharaa, der damals als Terrorist auf den Fahndungslisten zahlreicher Staaten stand und der heute als Syriens Präsident auf Staatsbesuch nach Washington reist, dem Restaurant überraschend einen Besuch abgestattet hatte. Videos vom Besuch zeigen, wie er an einem der Tische sitzt, wie Gäste des Lokals zu ihm kommen und Fragen stellen. «Er blieb vielleicht zehn Minuten», sagt Ibrahim Aude, der seit neun Jahren in dem Restaurant arbeitet und sich zu uns an den Tisch gesetzt hat. «Danach wollte er seine Rechnung bezahlen – natürlich haben wir das nicht akzeptiert.»

Der Besuch war ein gekonnter PR-Stunt des Rebellenführers, der damit seine Nähe zum Volk demonstrieren wollte. Ein Markenzeichen, das Ahmed al-Scharaa bis heute pflegt: Als Ende Oktober dieses Jahres ein paar seiner Gefolgsleute mit teuren Autos nach Idlib fuhren, wies er sie zurecht: «Ich wusste nicht, dass der Staat so hohe Löhne zahlt», soll er ihnen laut der Nachrichtenagentur Reuters gesagt haben. «Habt ihr vergessen, dass ihr Söhne der Revolution seid?»

Doch trotz seiner gemässigten Auftritte, der ruhigen Stimme, mit der er in zahlreichen Fernsehinterviews nicht nur über seine radikale Vergangenheit sinniert, sondern auch immer wieder seine Vision eines inklusiven Syrien darlegt, bleiben viele Aussenstehende misstrauisch. Ist der neue syrische Präsident tatsächlich so integer und gemässigt, wie er sich gibt? In Idlib zumindest scheinen die meisten Leute daran keinen Zweifel zu haben. «Wir haben mit ihm gelebt, er kennt uns. Er hat uns alles bereitgestellt und für Sicherheit gesorgt. Es gibt hier keinen Diebstahl und keinen Mord. Er ist ein Mann der Werte und der Religion», sagt Aude.

Ibrahim Aude ist einer von Hunderttausenden, die im Lauf des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben wurden und nach Idlib kamen. Er stammt ursprünglich aus Damaskus und lebt seit neun Jahren in Idlib. «Als wir hierherkamen, gab es kaum etwas», sagt er. «Wir haben die Stadt weiterentwickelt.»

Im Krieg, nachdem das Assad-Regime immer mehr Gebiete von der Opposition zurückerobert hatte, wurde die Provinz zum Auffangbecken, nicht nur für die Rebellen, sondern auch für Hunderttausende Zivilist:innen, die aus den Vororten von Damaskus, aus Ostaleppo, aus dem Umland von Homs und Hama hierherkamen. Vom Rest des Landes waren sie abgeschnitten: Selbst auf den Karten, die das syrische Staatsfernsehen vom Land zeigte, war Idlib einfach ausradiert. Die gemeinsame Erfahrung des Exils im eigenen Land schweisste die Menschen hier zusammen. Und die meisten sehen das, was Scharaa mit seiner Verwaltung hier in den letzten Jahren aufgebaut hat, als ihren eigenen Erfolg an.

Nach dem Sturz, sagt Ibrahim Aude, sei er nur einmal in die Hauptstadt gereist – und schockiert gewesen. «Es gab nichts dort, nicht einmal Strom», sagt er. Nach drei Tagen war er froh, wieder «in sein Land» – nach Idlib – zurückzukehren.

«Wir akzeptieren keinen neuen Diktator»

Eines aber gab es nicht in Idlib: freie Wahlen. Was Scharaa so erfolgreich gemacht habe, so das Fazit der beiden Wissenschaftler Patrick Haenni und Jerome Drevon, die jahrelang in Idlib forschten, sei nicht nur, dass er das Ziel seiner Revolution nie aus den Augen verloren habe: den Sturz des Assad-Regimes, sondern auch, dass er bereit gewesen sei, Konzessionen zu machen und auf Forderungen aus der Bevölkerung einzugehen. Die HTS hat sich unter dem Einfluss der Bevölkerung in Idlib vom radikalen Islamismus losgesagt. Denn der Islam, dem die Menschen in Syrien folgen, ist ein moderater. Auch Haenni und Drevon betonen jedoch, dass die HTS vor der Machtübernahme von Damaskus weder liberal noch demokratisch gewesen sei. Dabei ist die Frage, wie die syrische Regierung unter Ahmed al-Scharaa mit politischer Opposition umgehen wird – wie demokratisch Syrien künftig regiert werden wird –, eine der zentralsten überhaupt. Schliesslich richtete sich die Revolution von 2011, nicht nur in Syrien, sondern in allen arabischen Ländern, gegen die diktatorischen Regimes, die mit eiserner Hand regierten.

Portraitfoto von Nassif Sein al-Din Nassif
«Die neue Verwaltung ist offen für Kritik»: Nassif Sein al-Din Nassif aus Idlib.

Nassif Sein al-Din Nassif hat eine einfache Antwort: «Scharaa ist auf seinem Stuhl, weil wir ihn dorthin gebracht haben», sagt er. «Wir werden nicht akzeptieren, dass es einen neuen Diktator gibt.» Es ist Abend, Nassif sitzt im Café einer Shoppingmall in der Stadt Sarmada, rund dreissig Kilometer nördlich von Idlib. Die Mall ist eine von vielen, die in den letzten Jahren in der Provinz Idlib eröffnet wurden – und die heute eine Tourismusattraktion für Besucher:innen aus ganz Syrien sind.

Nassif stammt ursprünglich aus Aleppo und hatte sich 2011 von Anfang an den friedlichen Protesten angeschlossen. Mehrmals war er verhaftet worden, bevor er in die Rebellengebiete floh und sich schliesslich hier niederliess. Hier richtete sich seine Opposition nicht mehr nur gegen das Assad-Regime. Auch die HTS hat er stets kritisiert. Er war Teil einer Protestbewegung, die 2022 Reformen forderte, die Freilassung von politischen Gefangenen; manche forderten gar den Sturz von Ahmed al-Scharaa. Einmal habe er einen Drohanruf bekommen: Wenn er nicht still sei, werde ihm die Zunge abgeschnitten. Geschehen sei dann nichts.

Heute ist Nassif optimistisch. Die neue Verwaltung sei offen für Kritik, sagt er. Nachdem er einmal auf den sozialen Medien die Arbeit des Wirtschaftsministers kritisiert habe, habe er kurz darauf wieder einen Anruf erhalten. Doch der Ton sei anders gewesen: «Sie sagten mir, ich hätte ja recht mit meiner Kritik. Aber der Mann gebe sich Mühe und habe viel Erfahrung.» Um ihre Worte zu unterstreichen, schickten sie ihm den Lebenslauf des Ministers. Wenig später wurde Nassif zusammen mit einer Gruppe anderer Aktivist:innen zu einem Treffen mit der Verwaltung eingeladen. Sie sollten ihre Forderungen vorbringen – was sie auch taten. Manche davon seien umgesetzt worden, andere nicht.

Dies sei der Weg, den Aktivist:innen wie er gehen sollten, sagt Nassif: eine politische Opposition aufzubauen, die Druck ausüben und Forderungen stellen könne. Dass andere nach den Massakern an der syrischen Küste im März oder in der südlichen Provinz Suweida im Sommer den Sturz der Regierung forderten, hält er für falsch. Man befinde sich im Aufbau eines neuen Staates. Letztlich bleibe einem nichts anderes übrig, als mit jenen, die nun das Land regierten, zusammenzuarbeiten.

Aleppo: «Wir müssen Geduld haben»

Aleppo liegt weniger als eine Autostunde von Idlib entfernt. Schon auf der Fahrt vom Stadtrand ins Zentrum sieht man die Zerstörung, die Bomben der syrischen und der russischen Luftwaffe hier angerichtet haben. Denn bis 2016 war die Stadt zweigeteilt: Der Westen wurde vom Regime kontrolliert, der Osten von den Rebellen. Selbst der alte Markt im Zentrum wurde nicht von den Angriffen des Regimes verschont, das nicht nur gezielt die Zivilbevölkerung in den Oppositionsgebieten tötete, sondern auch nicht davor zurückschreckte, das historische Zentrum dieser jahrtausendealten Stadt zu zerstören.

Die Industriestadt Scheich Nadschar liegt rund zehn Kilometer ausserhalb von Aleppo. Die geraden Strassenzeilen, alle durchnummeriert, wirken auf den ersten Blick an vielen Stellen verlassen, nur einzelne Fabriken sind in Betrieb. Dabei war Scheich Nadschar einst eine der grössten Industriezonen Syriens – und Aleppo traditionell das industrielle Herz des Landes. Während des Krieges haben zahlreiche Fabrikbesitzer:innen ihre Standorte in Aleppo geschlossen und ihre Produktion in die Nachbarländer, vor allem in die Türkei, verlegt.

Chaled Jasseri in seiner Fabrik
«Ich ziehe es vor, in meinem Land zu sein»: Fabrikant Chaled Jasseri aus Scheich Nadschar bei Aleppo.

So auch Chaled Jasseri. Der kahlköpfige Mann führt durch die Produktionshalle seiner Fabrik. Im Eingangsbereich stapeln sich die Versandkartons, der Satz «Made in Turkey» ist mit schwarzem Filzstift durchgestrichen worden. Die Maschinen pressen Teile von Salatschleudern und spucken sie aus, die Arbeiter:innen packen sie in Kartons. Die Produktion läuft rund um die Uhr – dabei hat Jasseri noch gar nicht angefangen zu verkaufen. Er wartet, bis sein Lager voll ist, dann wird er seine Ware, die ausschliesslich für den syrischen Markt bestimmt ist, an die Händler:innen abstossen.

Jasseri hatte Syrien 2012 verlassen. Erst ging er nach Jordanien, wo er seine Fabrik wiederaufbaute, später verlegte er sein Geschäft nach Gaziantep in der Türkei. Im März 2025, drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes, beschloss er, nach Syrien zurückzukehren. Kein risikofreier Schritt – und alle, denen er davon erzählt habe, hätten ihm abgeraten, so Jasseri. Syrien sei noch zu unsicher. «Aber ich ziehe es vor, in meinem Land zu sein», sagt er.

Jasseri gibt sich optimistisch, ja euphorisch, wenn er über die Zukunft Syriens redet. Er sei nicht der Einzige, der aus dem Ausland zurückgekehrt sei, selbst türkische Fabrikbesitzer:innen hätten sich inzwischen in Scheich Nadschar niedergelassen: Die Situation verbessere sich, Strassen würden geflickt. Natürlich gehe alles langsam, aber das sei angesichts der grossen Zerstörung verständlich. «Wir müssen Geduld haben.» In der Industriestadt gebe es inzwischen 24 Stunden Strom. «Wenn dem nicht so wäre, könnte ich nicht hier arbeiten.»

Fundamentale Transformation

Natürlich ist das Gesamtbild komplexer. Zahlreiche Ökonom:innen warnen davor, dass die Marktöffnung durch die syrische Übergangsregierung die lokale Produktion bedrohe. Gegenüber dem syrischen Onlinemagazin «Enab Baladi» sagt etwa der Ökonom Ibrahim Qushji, dass die syrische Wirtschaft gerade eine fundamentale Transformation durchmache. Vor dem Sturz des Regimes war Syrien eine weitgehend geschlossene Wirtschaft, ausländische Markenprodukte fanden ausschliesslich über Schmuggel den Weg ins Land. Heute findet man Kinder-Schokoladeneier und Nutella in beinahe jedem kleinen Quartierladen, und selbst die lokale Produktion, so Qushji, sei zunehmend von Importen abhängig.

Das Land für Investitionen öffnen, die Wirtschaft liberalisieren: Das ist das erklärte Ziel der derzeitigen Machthaber in Damaskus. «Sie sagten von Anfang an, sie wollten die freie Marktwirtschaft unterstützen und keinen Sozialismus wie unter Assad», sagt Salam Said, Forscherin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dabei sei schon die Grundannahme falsch: Bereits unter Assad sei Syrien nicht sozialistisch regiert worden – sondern längst neoliberal. Assad privatisierte zahlreiche staatliche Betriebe, strich Subventionen auf Grundgüter. «Und eine kleine Elite, verbandelt mit dem Regime, kontrollierte durch Vetternwirtschaft die gesamte Wirtschaft.» Was heute fehle, sei ein klarer Plan, sagt Said. «Abgesehen von Verständigungen über Investitionen mit manchen Golfstaaten hat die Regierung bis heute keine klare Wirtschaftsstrategie veröffentlicht.» So sei auch Kritik schwierig, da man gar nicht wisse, was geplant sei.

Homs: Die Angst ist weg

Die Strassen von Homs sind ausgestorben, es ist Freitag, der islamische Feiertag. Doch für Jussef Abdullah spielt das keine Rolle. Der Mann, der für diesen Text weder seinen richtigen Namen noch seinen Beruf preisgeben will, hat dieses Gebäude, in dem sich sein Büro und seine Wohnung befinden, seit vergangenem Dezember kaum noch verlassen.

Abdullah ist Alawit. Zwar stamme er aus einer Familie, die der Opposition gegen das Assad-Regime nahegestanden habe, erzählt er. Sein Haus sei vom Assad-Regime bombardiert worden. Dennoch fühlt er sich heute in seiner Stadt nicht sicher. In Homs, einer konfessionell gemischten Stadt, wo die Gewalt des Assad-Regimes gegen die Bevölkerung mehr als an anderen Orten konfessionell getrieben war, ist die Situation seit Monaten angespannt. Immer wieder kommt es zu Gewalttaten gegen Alawit:innen. Manche werden entführt, andere auf offener Strasse von vorbeifahrenden Motorradfahrern erschossen: Hassverbrechen gegen jene religiöse Minderheit, der auch der gestürzte Diktator Baschar al-Assad angehört.

Dreizehn Jahre Bürgerkrieg und ein unbeschreibliches Ausmass an Gewalt haben nicht nur über eine halbe Million Todesopfer gefordert und Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Sie haben die Gesellschaft auch auseinandergerissen. Es gibt kaum eine Familie in Syrien, die keine Angehörigen verloren hat. Die grösste Zahl der Opfer hat das Assad-Regime zu verantworten – ob sie nun durch Bombenangriffe getötet wurden, ihre Häuser verloren haben oder in den berüchtigten Foltergefängnissen verschwunden sind.

Huda al-Sakka auf ihrem Balkon
«Bevor wir wieder zusammenfinden, muss die Wahrheit ans Licht kommen»: Huda al-Sakka in Homs.

Der Grund für die fortdauernde Gewalt, sagt Huda al-Sakka, liege in der fehlenden Aufarbeitung jener Verbrechen. Die Mutter von drei erwachsenen Kindern sitzt zu Hause im Wohnzimmer, über ihr an der Wand hängt ein Bild von Che Guevara. Ihr erstes Gefühl nach dem Fall Assads, sagt sie, sei eine riesige Erleichterung gewesen. Die Angst vor den Geheimdiensten, die so viele Syrer:innen haben verschwinden lassen, war endlich weg. Kurz nach dem Umsturz begann sie, als Freiwillige zu arbeiten.

Vor ein paar Monaten nahm Huda al-Sakka an einer kleinen Demonstration teil, die vom Staat forderte, viel entschlossener gegen die gewaltvollen Übergriffe vorzugehen. Die Polizei habe die Demonstration beschützt, und die Passant:innen, so Sakkas Eindruck, hätten sich mit ihrem Anliegen solidarisiert. Die Gesellschaft wünsche sich, dass endlich Ruhe einkehre. «Aber bevor wir wieder zusammenfinden, muss die Wahrheit ans Licht kommen.» Sakkas Stimme wird lauter. «Die Leute, die Verbrechen begangen haben, müssen belangt werden. Macht Baschar al-Assad den Prozess, damit die Menschen Ruhe finden.» Tränen füllen ihre Augen. «Es tut mir leid, wenn ich mich aufrege», sagt sie. «Aber das ist tatsächlich das erste Mal, dass ich etwas ruhiger darüber reden kann.»

Mitarbeit: Mohammad Maamari und Majd Alboukai.

Motorradfahrer in Aleppo
Motorradfahrer in Aleppo.