Andrea Arnold: «Etwas packt dich im Nacken und lässt dich nicht mehr los»
Die englische Regisseurin Andrea Arnold zählt zu den ganz Grossen des Kinos. Auch «Bird» ist in seiner unbändigen Sinnlichkeit wieder so elektrisierend wie jeder Film von ihr. Sie selber sieht das leider gar nicht so.

Andrea Arnold macht einen aufgeräumten Eindruck, aber glücklich ist sie nicht. Am Abend davor, als die britische Regisseurin leicht angeheitert und dabei überaus einnehmend vors Publikum trat, sagte sie freiheraus, dass ihr noch keiner ihrer Filme so viele Schwierigkeiten bereitet habe wie dieser. Jetzt, an diesem Mittwochmorgen im Oktober, hat sie bereits ein frühes Bad im recht kalten Zürichsee hinter sich, als sie noch etwas deutlicher wird: «Das ist nicht der Film, den ich …» Sie macht den Satz nicht fertig, aber im Gespräch wird klar, was sie meint: «Bird», ihr neuer Film, ist nicht so herausgekommen, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Dass eine Künstlerin vor einem Journalisten ihr eigenes Werk schlechtredet: Solche Offenherzigkeit ist bei einem Interview eigentlich nicht vorgesehen. Vielleicht hat auch das laue Echo in Cannes bei der 63-Jährigen gewisse Spuren hinterlassen. Schon dreimal hat sie dort den Jurypreis gewonnen: mit ihrem Erstling «Red Road» (2006), dann gleich wieder mit «Fish Tank» (2009) und zuletzt nochmals mit «American Honey» (2016). Diesmal, mit «Bird», ging sie leer aus, und auch die Kritiken winkten den Film eher teilnahmslos durch. Dabei besagt ein ungeschriebenes Gesetz, dass man keinem Urteil über einen Film trauen sollte, das in Cannes gefällt wurde, auch nicht dem eigenen. «Bird», so elektrisierend wie jeder andere Film von Andrea Arnold, bestätigt dieses Gesetz einmal mehr – auch wenn sie selber das nicht so sieht.
Mit jeder Faser
Arnold ist hier zurück im Milieu ihrer Herkunft, «zum letzten Mal», wie sie meint. Aufgewachsen ist sie in einem Sozialbau am äussersten Rand des Grossraums London, als ältestes von vier Geschwistern. Ihr Vater war siebzehn, als sie zur Welt kam, ihre Mutter war noch etwas jünger – und nach der Trennung bald allein mit den Kindern. Es sind Konstellationen, die Arnold so oder ähnlich immer wieder in ihren Filmen aufgreift: mit Jugendlichen in prekären Verhältnissen und sehr jungen, alleinerziehenden Müttern, aber immer wieder auch mit Ersatzfamilien in allen Schattierungen – gewaltvoll, zärtlich oder beides zugleich.
In «Bird» erzählt sie also nicht zum ersten Mal von einer Jugendlichen, die in sogenannt schwierigen Verhältnissen aufwächst; und auch diesmal lässt sie das Publikum mit jeder Faser am Erfahrungshorizont ihrer Protagonistin teilhaben. Hier ist es Bailey (die zwölfjährige Nykiya Adams), die zusammen mit einem etwas älteren Halbbruder bei ihrem Vater Bug lebt. Barry Keoghan spielt diesen sehr jungen Vater als übersteuerten Leichtfuss, der auf seinem E-Scooter durch die Strassen kurvt wie ein hormonell herausgeforderter Teenager – eher grosser Bruder als verantwortungsvolles Elternteil. Zu Hause zeigt Bug seiner Tochter das scheussliche Kleid, das sie bei seiner Hochzeit als Brautjungfer tragen soll, worauf Bailey aus Protest gleich mal ihren Afro abrasiert.
«Bird»
Zwischen zwei Formen von elterlicher Verwahrlosung hat sich Bailey (Nykiya Adams) für ihren überdrehten Vater (Barry Keoghan) entschieden, bei dem sie in einem besetzten Haus lebt. Der Vater will jetzt seine neue Freundin heiraten und bringt in einem Plastiksack ein lebendes Drogenlabor nach Hause, das ihm die Hochzeit finanzieren soll: eine Kröte, die in bestimmten Gefühlslagen angeblich ein halluzinogenes Sekret produziert.
Wie vom Wind herbeigetragen, taucht dann ein Sonderling namens Bird (Franz Rogowski) auf. Er sucht in der Gegend nach seinen Eltern, denen er angeblich vor langer Zeit abhandenkam. Bailey versucht, ihm dabei zu helfen, auch wenn sein einziger Anhaltspunkt eine Kritzelei auf einer leeren Zigarettenschachtel ist.
In der Ödnis einer britischen Agglo wird daraus so etwas wie ein Märchen um echte und falsche, schlechte und gute Väter und solche, die vielleicht doch noch zu jung dafür sind. Und immer wieder diese mit Filzstift getaggte Parole, wie eine Beschwörungsformel in unwirtlicher Welt: «Don’t you worry.»
«Bird». Regie und Drehbuch: Andrea Arnold. Grossbritannien 2024. Jetzt im Kino.
Draussen auf der Heide kommt dann ein seltsamer Kerl daher, wie aus einem ganz anderen Film. Gekleidet wie ein Vagabund aus fernen Zeiten, tanzt er Bailey vor der Nase herum, ein bisschen zum Fremdschämen: Was tut der da, dieser Tagedieb, und was will er von ihr? «Bird» nennt er sich, dieser komische Vogel, der sich für Bailey als eine Art Schutzengel erweisen wird. Gespielt wird er von Franz Rogowski, und mit dieser Figur erweitert Andrea Arnold die rohe, unbändige Sinnlichkeit, die man von ihren Sozialdramen kennt, beiläufig ins Fantastische – mit einer Art magischem Realismus, der aber sehr bodenständig bleibt.
Das beginnt schon beim Soundtrack, mit dem verwehten Geknister von Burial, das sich über die Bilder legt wie eine zarte atmosphärische Störung. Daneben gibts auch wieder diese Heuler, die Arnold in ihren Filmen gerne laut aufdreht, diesmal von Coldplay, Fontaines D. C. oder Rednex. Und mehr als einmal auch «The Universal» von Blur, mit der Zeile: «The future has been sold». Dass die Zukunft verkauft worden ist: Da, wo Andrea Arnold herkommt, wissen sie genau, was das heisst.
Den Raum erobern
Angefangen hat sie einst beim Fernsehen. Damals, in den frühen achtziger Jahren, stand Arnold selber noch vor der Kamera, als Moderatorin und Schauspielerin in einer Morgensendung für Kinder. Später folgten erste Kurzfilme als Regisseurin; mit ihrem dritten, «Wasp», gewann sie dann den Oscar für den besten Kurzspielfilm. Ziemlich genau zwanzig Jahre ist das her, und damals wie heute hiess ihr Kameramann: Robbie Ryan. Bis auf «Cow» (2021), ihre eindringliche Langzeitstudie über das Leben einer Milchkuh und ihr bislang einziger Dokumentarfilm, hat Arnold ihre Filme immer mit dem Iren gedreht, der zuletzt auch bei Ken Loach und Yorgos Lanthimos stets für die Bildgestaltung zuständig war.
Inzwischen verstehen sie sich fast blind: «Im Scherz sage ich immer, dass wir gar nicht mehr miteinander reden, weil wir uns schon so gut kennen.» Und dann erzählt Arnold von der allerersten Einstellung, die sie damals bei «Wasp» von Robbie Ryan verlangt habe. Die Szene: Natalie Press als alleinerziehende Mutter rennt mit Baby auf dem Arm eine Treppe herunter. Und die Kamera? «Ich sagte ihm, dass ich sie auf ihrem Gesicht haben wolle. Erst da wurde mir klar, was ich von ihm verlangte: dass er rückwärts die Treppe hinunterrennen solle.» Worauf Robbie Ryan genau das getan habe und mit geschulterter Kamera rückwärts die Treppe hinuntergerannt sei.
Die Handkamera ist seither für Andrea Arnold unverzichtbar geblieben – wegen der Autonomie, die sie den Spielenden zugesteht: «So können sie sich frei bewegen, als ob der Raum ihnen gehörte.» Es ist eine ästhetische Maxime, in der sich auch eine politische Haltung äussert: Die Figuren sollen sich den Raum nehmen, den sie zur Entfaltung brauchen.

Verkehrt auf dem Pferd
Selbst auf unwegsamem Gelände lässt sich Arnold nicht davon abbringen, und das ist nicht immer so halsbrecherisch wie damals bei «Wasp». Sie erzählt von den Dreharbeiten zu «Wuthering Heights» (2011), in struppiger Heidelandschaft; der Untergrund so holprig, dass die Handkamera kaum zu führen wäre. Wie auf einem Filmset üblich, hat man deshalb Schienen für einen Dolly verlegt, den Kamerawagen, der für geschmeidige Kamerafahrten sorgt. Andrea Arnold hasst Dollys. Die Bewegungen seien ihr zu mechanisch, zu wenig natürlich, sagt sie. Also weg mit der Maschine und her mit einem Arbeitstier: Statt auf den Dolly setzte sich Robbie Ryan verkehrt herum auf ein Pferd und filmte so, über die Heide schaukelnd, hinten hinaus.
«Wuthering Heights», nach dem gleichnamigen Roman von Emily Brontë, ist eine Literaturverfilmung, wie es sie viel zu selten gibt. Schon unzählige Male ist das Buch verfilmt worden, fürs Kino, als Serie oder als Telenovela; eine weitere Verfilmung ist gerade unter der Regie von Emerald Fennell in Arbeit; mit Jacob Elordi und Margot Robbie sind zwei der angesagtesten Stars für die Hauptrollen vorgesehen. Ganz anders bei Andrea Arnold: Die beiden Hauptfiguren besetzte sie damals, wie so oft in ihren Filmen, mit unbekannten Gesichtern. Keine Profis, schon gar keine Stars. Den Roman reduzierte sie auf seine elementaren Fliehkräfte, ohne die historisierenden Allüren des Ausstattungskinos – aber gerade, weil sie die literarische Vorlage sehr frei verdichtet, kommt sie dem Roman und seinen widerspenstigen Figuren viel näher, als es jedes akkurat geschürzte Kostümdrama könnte. Es ist ein Film von kompromissloser, auch schmerzhafter Sinnlichkeit, auch wenn er in der zweiten Hälfte etwas von seiner unbändigen Kraft einbüsst.
Ob sich Arnold aber nochmals einen literarischen Klassiker vornehmen wird? Unwahrscheinlich. «Ich weiss gar nicht, wieso ich das überhaupt gemacht habe», sagt sie heute. «Es war Irrsinn.» Den Roman von Emily Brontë hat sie geliebt, aber sie stiess damals erst spät zum Projekt und habe dann alles über den Haufen geworfen. «Es war hart, aber ich konnte nicht aufhören. So ist das bei allem, was ich mache: Ich suche mir das nicht aus, es sucht mich aus. Etwas packt dich im Nacken, und dann lässt es dich nicht mehr los. Es ist fast so, als ob ich gar keine Wahl hätte.»
Nicht nach Plan
Und jetzt hat sie wieder etwas im Nacken gepackt, sodass sie doch nochmals zurückgekehrt ist in die Welt ihrer Kindheit, obwohl sie gedacht hatte, dass sie filmisch damit eigentlich abgeschlossen habe. Diesmal war es das Bild von einem dünnen Mann, der nackt auf einem Dach steht, das sie nicht losgelassen hat – als ob darin ein Rätsel verborgen wäre, das sie lösen musste. Aber wieso hat ihr noch keiner ihrer Filme so viele Schwierigkeiten bereitet wie eben «Bird»?
«Sie hören das wahrscheinlich dauernd», holt sie aus, «aber wenn man einen Film macht, läuft es eigentlich nie nach Plan. Das ist normal, man gewöhnt sich daran und findet Wege, damit umzugehen.» Sie gehöre nicht zu denen, die sich eine Idee in den Kopf setzen und diese dann durchziehen. «Ich versuche, mich darauf einzulassen, was der Tag so bringt, je nach Wetter und auch je nach den Kids, die mitspielen. Und wenn etwas im Weg ist, das so nicht vorgesehen war, versuche ich, das trotzdem zuzulassen, denn das macht es doch erst lebendig. Man verliert dabei zwar manches, dafür gewinnt man andere Dinge.» Doch dieses Mal, bei «Bird», sei es anders gewesen, sagt sie: zu viele Verluste, viel mehr als üblich.
Konkreter will sie nicht werden, weil sie nicht möchte, dass eine grosse Geschichte daraus wird. «Ich habe gelernt, da etwas vorsichtiger zu sein.» Vorsichtiger vielleicht als vor fünf Jahren. Damals war Andrea Arnold für die zweite Staffel von «Big Little Lies» engagiert worden, als Regisseurin mit eigener Handschrift – und als alle Episoden abgedreht waren, entzog man ihr die kreative Kontrolle und drehte angeblich manches nochmals neu. So jedenfalls die vielbeachtete Story, wie sie seinerzeit im Branchenmagazin «IndieWire» kolportiert wurde. Sie sagt jetzt lieber nichts mehr dazu.
Unterwegs im Niemandsland
Bei «Bird» liegt der Fall sowieso anders. Zwei benachbarte Wohntürme, wie sie der Regisseurin als Schauplatz vorschwebten, liessen sich nicht finden, und als ein Ersatz gefunden war, durfte sie dort nicht auf dem Dach drehen, weshalb Andrea Arnold wenige Wochen vor Drehbeginn viele Szenen nochmals umschreiben musste. Und der magische Realismus, den sie hier in ihre filmische Welt hereinholt: Offenbar hätte sie damit noch viel weiter gehen wollen. Aber manches von dem, was ihr sehr am Herzen gelegen habe, «richtig schöne Sachen», die sie sehr gerne im Film gehabt hätte, habe dann nicht geklappt – weil die Zeit dafür gefehlt habe oder aus anderen Gründen, auf die sie eben nicht näher eingehen will. «Das hat mich sehr traurig gemacht.»
Aber dann sieht man «Bird» und weiss: Es gibt wirklich keinen Grund, es ihr gleichzutun.
Mag schon sein, dass das besetzte Haus, in dem Bailey wohnt, mehr nach dekorierter Kulisse aussieht als nach belebtem Wohnraum. Und mag auch sein, dass in «Bird» etliche Motive wieder auftauchen, die man so oder ähnlich schon in früheren Filmen von Andrea Arnold gesehen hat: die ausschwärmende Jugendgang aus «American Honey», der Wind, der durchs Heidekraut fährt wie in «Wuthering Heights». Oder dann der Moment, als Bailey zu Fuss ihre Mutter besuchen geht und sie, unterwegs im Niemandsbrachland, ein paar Jungs mit einem Pferd kreuzt: Hat sie da gerade eine Szene aus «Fish Tank» durchquert? Déjà-vu!
Das war in etwa der Tenor in Cannes: Alles wie gehabt bei Arnold, jetzt einfach garniert mit magischem Realismus. Aber wer da nur noch Selbstzitate sieht, macht es sich viel zu bequem beim Schauen. Man könnte auch getrost sagen, «Bird» sei die Summe ihres Werks. Ein Film der rauen Ränder, manchmal wie mit groben Stichen zusammengenäht. Alles nicht perfekt, aber ein Film, der all das nochmals anders bündelt, was das Kino von Andrea Arnold so einzigartig macht. Diese rohe Energie des Alltäglichen, die sie einfängt; diese Figuren, die oft wie unter Strom stehen und doch immer wieder innehalten, ganz bei sich; der impulsive Rhythmus dieser Geschichten, die scheinbar drauflosstreunen und erst mit der Zeit herausfinden, wo sie eigentlich hinwollen.
Andrea Arnolds Filme sind das freihändige Leben: loslassen, sich von der Bewegung mitreissen lassen, in jedem Augenblick einem möglichen Sturz entwischen.