Von oben herab: Ein Märchen

Nr. 29 –

Stefan Gärtner über Phrasen zur Fussball-EM

Diesen Artikel hören (4:36)
-15
+15
-15
/
+15

Obwohl ich seit Jahren nicht mehr Fussball schaue, schaue ich neuerdings wieder Fussball, und zwar Frauenfussball, weil der Grosse zwar nicht Fussball spielt, ja Fussballspielen regelrecht hasst, aber das Turnierschauen als Vorwand für zwei extra Bildschirmstunden entdeckt hat – ach, wie ist Papa wieder misstrauisch! Andere Version: Der Bub hat sich bei der Männer-EM 2024 von der Begeisterung in seiner Schulklasse anstecken lassen und ist nun wieder begeistert, unter anderem davon, sich abends zwei Stunden mit Papa vor den Fernseher zu hocken.

Die Mama lehnt den «nationalen Zirkus» nämlich ab, und früher, als es für mich kaum Schöneres als ein grosses Fussballturnier gab (und ich Rudi Völlers 86er-WM-Final-Ausgleich nach wie vor für einen der glücklichsten Momente meines Lebens halte), hätte ich vermutlich zu einem Vortrag angesetzt der Richtung, es gebe Patriotismus und Fussballpatriotismus, und das eine sei verächtlich und das andere nicht, als nämlich verdünnte, als solche akzeptable Version; wie ja auch viele linke Intellektuelle fussballbegeistert sind. Oder jedenfalls waren, denn das von Fifa und Uefa nach Kräften durchkorrumpierte Weltkicktheater im Dauerfeuermodus ist ja ein guter Grund, die Leidenschaft zu überdenken oder auf den kleinen Lokalfussball umzulenken.

Heute, da für mich, mit dem späten Gottfried Benn, in dieser Beziehung gilt: «alles überwunden», muss ich diesen Vortrag nicht mehr halten, und wenn ich höre, dass die Schweizer Presse, geht es um das Heimturnier, ohne das Wort «Sommermärchen» nicht mehr auskomme, will mir dazu nicht viel mehr einfallen, als dass Journalismus, da hat sich seit Karl Kraus nichts geändert, eben immer noch zuallererst Phrasendreschen ist.

Nun birgt noch jede Lüge ihre Wahrheit (die sie ja bloss auf den Kopf stellt), aber die Rede vom «Sommermärchen» ist gar nicht gelogen, jedenfalls dann nicht, wenn «Märchen» nicht das metaphorische aus der Märchenhochzeit meint, sondern das aus Kröners Sachwörterbuch der Literatur: «Kürzere volksläufig-unterhaltende Prosaerzählung von phantastisch-wunderbaren Begebenheiten und Zuständen aus freier Erfindung»; und dann kommts doch hin. Denn eine solch frei erfundene Erzählung war die deutsche von 2006, dem Jahr des WM-«Sommermärchens», schliesslich, vom friedlich-freien, umfänglich unkorrupten Sportwettbewerb, der den Deutschen den «fröhlichen Patriotismus» wieder beigebracht habe. Heute weiss man, das Turnier war gekauft und die unfröhlich patriotische AfD nähert sich den 25 Prozent.

Alles gelogen? Nein, eben nur ein Märchen. Die ganze Erzählung von Fairness und Vielfalt ist letztlich ein Märchen, denn natürlich sondert Leistungssport die Schwachen aus, anders er keiner wäre, und natürlich ist er Teil des Systems aus Konkurrenz und Vermarktung, und natürlich staunt der alternde weisse Herr, wie sehr sich der Frauenfussball entwickelt und professionalisiert hat, und gönnt der Emanzipation ihren Sieg, wenn auch in dem Wissen, dass Sieg heisst, dass es jetzt auch die Frauen falsch machen dürfen. Und nämlich für Sponsorenwerbung zur Verfügung stehen; und passend schwafelt die ZDF-Reporterin Claudia Neumann genauso heil- und hirnlos herum wie ihre männlichen Kollegen.

Aber was lässt sich im Falschen schon richtig machen, nicht wahr, und selbstredend erlaube ich dem Sohnemann das abendliche Frauenfussballschauen schon darum, weil Frauenfussball für ihn rein gar nichts Zweitrangiges mehr hat. Er wollte am Abend nach dem deutschen Spiel gegen die Schwedinnen dann auch gleich das nächste sehen, kassierte aber den heiklen, weil missverständlichen väterlichen Einwand: «Nur deutsche Spiele!» Und wieder steckte Papa im Dilemma: Denn Vielfalt gut und schön, aber Zwölfjährige müssen auch mal schlafen. Schöne Halbzeitpause allerseits!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.