Cláudia Varejão: Körper voller Codes

Nr. 16 –

Die portugiesische Künstlerin Cláudia Varejão ergründet in ihren Filmen die symbolische Ordnung von Gemeinschaften und deren mögliche Veränderung. Eine Begegnung am Festival Visions du Réel in Nyon.

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Portraitfoto von Cláudia Varejão
Gibt es eine weibliche Ästhetik? Mittlerweile könne sie dieser Vorstellung etwas abgewinnen, sagt Cláudia Varejão. Foto: Catarina Vasconcelos

Ihre internationale Karriere begann am Wasser: Im Dokumentarfilm «Ama-San» (2016) begleitet Cláudia Varejão eine Gruppe traditioneller japanischer Muscheltaucherinnen durch den Alltag. Man sieht die Frauen kochen, bügeln, Kinder oder Enkel:innen betreuen, bevor sie Luft holen und ins Meer abtauchen. Luftflaschen haben sie keine, dafür kunstvoll gewickelte weisse Schals um den Kopf.

«Ama-San» lief damals am Visions du Réel. Dieses Jahr nun war der portugiesischen Regisseurin, Kamerafrau und Fotografin am Dokumentarfilmfestival in Nyon eine Werkschau gewidmet. In der Masterclass erinnerte sich Cláudia Varejão, was sie an den «Frauen des Meeres» besonders faszinierte: ihnen folgen zu können, ohne ihre Sprache und Bräuche genau zu verstehen. «Wie ein Kind unter Erwachsenen» sei sie sich vorgekommen: «Es weiss nicht genau, was vor sich geht, fühlt sich aber trotzdem verbunden.»

Die ehemalige Leistungsschwimmerin und Sportstudentin dreht viele ihrer Filme selbst. Auf den Dreh bereitet sie sich vor wie früher auf einen Wettkampf: «Mit viel Schlaf und gutem Essen.» Ihre Ausdauer merkt man den Bildern an: Die Kamera registriert jede noch so kleine Geste, folgt Handgriffen und Bewegungsroutinen und verwandelt alltägliche Verrichtungen wie die Unterwasserernte der Ama-San in eine Art Tanz.

Sicherheit dank Sturz

Dabei verstehe sie gar nichts von Tanz, gesteht Varejão auf Nachfrage im Gespräch. Als sie die Einladung bekam, einen Jubiläumsfilm über die nationale Ballettcompagnie Portugals zu drehen («In the Darkness of the Theater I Take Off My Shoes», 2016), habe sie Wochen gebraucht, nur um herauszufinden, wie sie die Truppe filmen könnte, ohne ihr ständig im Weg zu stehen. Der Druck sei gross gewesen. Erst ein an sich harmloser Sturz einer jungen Tänzerin habe ihr Sicherheit gegeben: «Dank ihm verstand ich, dass ich im Saal nicht die Einzige war, die unter ständiger Versagensangst litt.»

Varejão wuchs in den achtziger und neunziger Jahren in Porto auf, im eher konservativen Norden Portugals. Die Kamera, die sie von klein auf mit sich herumtrug, hatte sie von ihrer Mutter bekommen. Die meisten Filme, die sie in ihrer Jugend zu sehen bekam, waren aber von Männern. In der Filmklasse war sie die einzige Frau. «Ich habe einen weiblichen Körper, also tue ich weibliche Dinge» – dieser Trugschluss erschien auch ihr lange selbstverständlich. Heute arbeitet sie mit ihren Filmen gezielt gegen ihn an.

Besonders radikal tut sie das in ihrem Kurzfilm «Ø Island» (2020), entstanden in Zusammenarbeit mit der Choreografin Joana Castro und inspiriert von Virginie Despentes’ Buch «King Kong Theorie». Während die Kamera über mehrere aneinander oder ineinander geschmiegte nackte Körper fährt, die sich kaum auseinanderhalten lassen und zusammen eine zerklüftete Landschaft bilden, berichten Stimmen aus dem Off, wie sie zu dieser «Landschaft» stehen, der sie ausgeliefert sind. Bemerkenswert: Auch die beiden Regisseurinnen waren während des Drehs nackt, um das Machtgefälle abzuschwächen.

Raus zum Badesee

Gibt es eine weibliche Ästhetik? Die Frage habe sie früher immer entschieden verneint, meint Varejão. Inzwischen könne sie der Vorstellung aber etwas abgewinnen. Tatsächlich gebe es durchaus «einige Codes und Symbole, die nur mit einem Teil des Publikums kommunizieren – je nach Erfahrungshorizont».

Das zeigt «Luz da manhã» («Morning Light», 2011), der letzte Teil einer Trilogie von Kurzspielfilmen über fehlschlagende Familienbegegnungen: Eine Frau ist mit ihrer kleinen Tochter bei ihrer schon etwas betagten Mutter zu Besuch und kümmert sich um beide. Es ist ein ganz normaler Sommermorgen: anziehen, frühstücken, dann raus zum Badesee. Nur Oma wird zunehmend bockiger. Was ist geschehen? Wer keine Erfahrung mit Care-Arbeit hat, kann leicht den Faden verlieren.

Um queere Erfahrungshorizonte geht es in Varejãos neustem Spielfilm, «Lobo e cão» («Wolf and Dog», 2022). Der Film erzählt die komplizierte Emanzipationsgeschichte einer Gruppe queerer Jugendlicher auf einer der konservativsten und ärmsten Inseln Portugals. Gedreht hat Varejão ausschliesslich mit Laiendarsteller:innen, die selbst aus der Gegend stammen. Das Drehbuch entstand auf der Grundlage von Interviews mit Inselbewohner:innen. Niemand im Film spielt sich selbst, aber alle verbindet etwas mit ihrer Rolle. Bei einem Hauptdarsteller ging die Identifikation sogar so weit, dass er beinahe einen Rückzieher gemacht hätte, weil er nicht mehr wusste, wer von beiden mehr er selbst war: der harte Ruben oder der weiche Luis?

Mit der Welt verbunden

Auch Psycholog:innen waren am Filmprojekt beteiligt, und als die Crew von der Insel abzog, liess sie eine professionelle Anlaufstelle zurück. Kino sei «kein soziales Projekt», habe ein Kollege sie auf einer Preisverleihung einmal belehrt. Varejão lacht: In dieser Hinsicht bleibe sie unverbesserlich.

«In der Gegenwart sein, sich über den Körper mit dem Raum, ja mit der Welt verbinden.» Was ein Choreograf im Ballettfilm übers Tanzen sagt, gilt auch für das an Ruhe, Konzentration und Anmut kaum zu übertreffende Kino von Cláudia Varejão. Einfach die Luft anhalten und abtauchen.