«The Landscape and the Fury»: Was Worte nicht erzählen können
Nicole Vögele berichtete als TV-Journalistin von den Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze, für ihren Dokumentarfilm ist sie in die Region zurückgekehrt. In Nyon hat sie damit den Hauptpreis gewonnen.
Die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und dem EU-Mitglied Kroatien verläuft durch Wälder, Flüsse und Gebirge. Eine Landschaft, die man «schön» nennen könnte, wären da nicht die vielen Spuren von Krieg und Gewalt: Absperrbänder, die vor Minen warnen, ein verrosteter Panzer im Laub, aufgeweichte Passbilder im Gras und immer wieder kaputte Handys, Rucksäcke, Schuhe.
Der Film beginnt nachts im Wald, die Kamera irrt durchs Unterholz, als wäre sie selbst auf der Flucht. Äste knacken, Hunde bellen, Menschen atmen aufgeregt. Ein unheilvolles Flirren fräst sich in die eindringliche Geräuschkulisse. Dann ist es Tag, die Kamera geht auf Distanz. Weite, hügelige Landschaften füllen die Leinwand, in ihrer 16-Millimeter-Körnigkeit sehen sie aus wie gemalt. Die Menschen wirken darin beinahe nebensächlich, und doch interessiert sich der Film hauptsächlich für sie. Ein Minensucher steckt sichere Gehwege ab. Eine Familie quartiert sich in der alten Schule ein, die die Gemeinde den Geflüchteten zur Verfügung stellt. Junge Männer auf Motorrädern rattern über Hügel und Felder.
Nicht ganz heimisch
«The Landscape and the Fury» – der Titel des Films stand schon fest, noch «bevor ein Wort dazu geschrieben war», erklärt Regisseurin Nicole Vögele im Gespräch nach der Premiere am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon. Bücher wie William Faulkners «The Sound and the Fury» hätten ihr Mut gemacht, ganz auf Beobachtung zu setzen: «Mal zwei Seiten lang über einen Baum schreiben – wenn der das kann, darf ich das auch.» Solche Vorbilder seien ihr wichtig, weil sie sich im Kunstbetrieb immer noch nicht ganz heimisch fühle.
Nach einer KV-Lehre begann Vögeles Karriere beim Fernsehen eher unverhofft als Redaktionssekretärin von «Cash TV». Weil sie sich langweilte, bekam sie immer mehr Aufgaben zugeteilt. Wenn jemand krank wurde, sprang sie ein. Nebenher absolvierte sie den Diplomlehrgang an der Journalist:innenschule MAZ, wechselte zu «10 vor 10», drehte erste Fernsehdokus und schaffte es schliesslich ohne Matura an die Filmakademie Baden-Württemberg, wo sie das Team fand, mit dem sie bis heute zusammenarbeitet: Kameramann Stefan Sick, Sounddesigner Jonathan Schorr, Editor Hannes Bruun.
TV-Reportagen und künstlerische Dokumentarfilme seien für sie «zwei Welten», die sie bisher bewusst getrennt gehalten habe. Als Filmemacherin versuche sie, «das Gegenteil» von dem zu machen, was sie als Journalistin gelernt habe: kein Einordnen und Erklären, dafür wahrnehmen und fühlen lassen. Das Wort «Aufladung» beschreibe es ganz gut. Bei «The Landscape and the Fury» bedeutete das: «Wir haben uns dem Ort ausgesetzt, tranken mit den Leuten stundenlang Kaffee, saugten Eindrücke auf und machten uns dann gemeinsam auf die Suche nach passenden Bildern und Tönen.»
Von der Reportage zur Poesie
Ihre bisherigen Filme unterschieden sich auch thematisch stark von ihren journalistischen Arbeiten: Der Kurzfilm «Frau Loosli» (2013) erzählt vom Alleinsein, ihr Abschlussfilm «Nebel» (2014) kreist um die Frage, wie wir unserem Dasein Sinn verleihen, «Closing Time» (2018) ist eine Meditation über (Nacht-)Arbeit in Taipeh. «The Landscape and the Fury» ist der erste Film, bei dem sich ihre beiden Arbeitsbereiche kreuzen.
Vögele hatte die illegalen Pushbacks der kroatischen Polizei für einen internationalen Rechercheverbund dokumentiert. Aus dem Material sind mehrere Reportagen entstanden, unter anderem für die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens. Auch diesmal hatte sie eigentlich nicht vor, das Thema poetisch zu bearbeiten. Zu gross schien ihr die Gefahr, dabei Elend und Leid zu romantisieren. Doch nach mehreren Monaten in der Grenzregion entdeckte sie etwas, das sie als Filmemacherin interessierte, nicht als Journalistin: die Überschneidung von Fluchterfahrungen und Kriegserinnerungen. Das gehört für sie zu jenen «Dingen», für die sie Filme macht, weil «man sie einfach nicht mit Worten erzählen kann».
Gewalt, die sich in die Landschaft einschreibt, ohne dass auch nur ein Pilz mit der Lamelle zuckt. «The Landscape and the Fury» ist eine erhellende sensorische Erfahrung. An der Situation der Menschen an der Grenze wird er wohl nichts verändern – dafür eigne sich ihre journalistische Arbeit um einiges besser, sagt Vögele. Aber die «gleichgültigen» Landschaften im Film erinnern uns daran, wie unsinnig Grenzen und wie absurd Kriege sind.
«The Landscape and the Fury». Regie und Drehbuch: Nicole Vögele. Schweiz 2024.