Die Welt dreht sich: Über den Wolken

Nr. 43 –

Rebecca Gisler lässt sich ablenken

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Eigentlich wollte ich diese Kolumne über einen Rekord schreiben: die Kündigung des französischen Premierministers Sébastien Lecornu nach nur 27 Tagen Amtszeit. Doch wie es so ist mit guten Ideen: Manche sind am Ende nicht so gut oder bereits am eigenen Verfallsdatum angekommen. In diesem Fall trifft beides zu. Kurz nach der Kündigung hatte Lecornu doch nicht gekündigt oder nahm diese zurück oder wurde einfach wieder angestellt oder gezwungen, seine Anstellung wieder anzunehmen.

Dieses absurde Hin und Her ereignete sich genau in einer Zeit, in der ich mich einer meiner grössten Ängste stellen musste: dem Fliegen. Beim Thema Flugangst helfen auch Statistiken nicht weiter, die einem versichern, dass man mit weit höherer Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall stirbt als bei einem Flugzeugabsturz. Die Angst war allerdings nicht immer da gewesen. Es scheint mir, als wäre ich ab der Volljährigkeit mit jedem Jahr ein wenig ängstlicher geworden. Als Kind durfte ich gelegentlich ein ausgesprochen langweiliges Computerspiel namens «Flight Simulator» spielen – ein Spiel, das meinem Vater gehörte, der gerne Pilot geworden wäre, es aber nie geworden ist. Im Wohnzimmer standen seine detailgetreuen Flugzeugmodelle, die ich bestaunen, aber nicht anfassen durfte; davon trage ich aber meines Erachtens keine allzu traumatischen Erinnerungen in mir, die meine Flugangst erklären würden. Das Einzige, was ich heute gegen die Angst tun kann, ist: nicht fliegen. Grundsätzlich und aus persönlichen Überzeugungen versuche ich ohnehin, das Fliegen zu vermeiden. Für diese Oktoberreise hatte ich aber leider keine Wahl.

Ab dem Moment, ab dem die Flugtickets gebucht waren, wurde ich auf den sozialen Kanälen regelrecht überflutet mit Bildern von Flugzeugrümpfen, die wenige Zentimeter über dem Boden auseinanderbrechen und Feuer fangen. Ich weiss nicht, wie sehr ich tatsächlich selbst aktiv nach diesen Bildern gesucht hatte oder ob der Algorithmus längst meinen Ängsten auf der Spur war.

Einige Tage vor dem Abflug blätterte ich in den Arbeitsbüchern von Leonardo da Vinci. Auf den Seiten über das Thema Fliegen denkt er unter anderem über den Flugkörper und dessen Mechanismus, die Bewegungen eines Vogels und die verschiedenen Winde auf eine so vielschichtige, dichte und poetische Weise nach, dass ich mir wiederholt einredete, dass letztlich nichts in meiner Macht liegt. Um mich selbst noch mehr davon zu überzeugen, versuchte ich, da Vincis Gedanken meiner einjährigen Tochter, die ihren allerersten Flug vor sich hatte, nachzuerzählen, und sagte Dinge wie etwa, dass ein Vogel sich mithilfe des Windes erhebt – ganz ohne mit den Flügeln zu schlagen. Als wir schliesslich tatsächlich im Flugzeug sassen, war meine Angst plötzlich nicht mehr so gross. Weniger dank da Vincis brillanten Beobachtungen – als vielmehr dank der ebenso brillanten Ablenkungskraft eines Kleinkinds. Auch die Flugzeit vergeht deutlich schneller, wenn man damit beschäftigt ist, die Fensterblende rauf- und runterzuziehen, Wolken zu zählen oder zu erklären, dass wir uns gerade quasi auf der anderen Seite der Welt befinden – nämlich über den Wolken.

Meine Tochter allerdings zeigte sich von dieser Vorstellung eher unbeeindruckt. Weitaus faszinierender fand sie die golden glitzernden Parfümanzeigen in den Duty-free-Magazinen, die sich so wunderbar aus der Rücklehne des Sitzes vor uns herausziehen liessen.

Rebecca Gisler ist Autorin und will nie mehr fliegen.