Im wilden Westen Der Jura war lange ein Schmugglerparadies. Auch als Filmkulissen eignen sich seine Landschaften gut zum Verstecken – aber längst nicht nur, wie die grosse Retrospektive an den Solothurner Filmtagen zeigt.

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Filmstill aus «L’allégement»: eine Frau und ein Mann auf einem Pferd in einem Kornfeld
Ein sinnlicher und sanfter ­Seelenwestern: «L’allégement» von Marcel Schüpbach (1983). Still: Sammlung Cinémathèque Suisse

Obschon ein ganzes geologisches Erdzeitalter und sogar ein Gebirgszug auf dem Mond nach ihm benannt sind, steht der Jura im hiesigen Imaginären seit jeher im Schatten der Alpen. Das könnte daran liegen, dass die Bergkette, deren höchster Punkt bloss 1720 Meter über Meer liegt, tatsächlich bloss eine Art geologischer Nachgedanke der imposanteren Alpen ist. So hat der Jura weder unzählige Gipfelstürmer noch karthagische Feldherren angelockt. Statt von phallischen Gipfeln wird die Landschaft von lang gezogenen Tälern definiert, von diskreten oder gar unterirdischen Seen, von Schluchten und ewigen Tannenwäldern, von kalten Winden und vom Nebel.

«Es ist eine Landschaft, die nichts tut, um zu gefallen, die aber darauf wartet, entdeckt und geschätzt zu werden.» Mit diesen Worten führt der Sprecher von Henry Brandts «Quand nous étions petits enfants» (1961) in die Welt ein, die hier dokumentiert wird: eine Landschule im Neuenburger Jura nahe der französischen Grenze. Sanft und überraschend progressiv leitet der Lehrer seine Schüler:innen an, die neben dem Unterricht oft auch in die landwirtschaftlichen Betriebe der Eltern eingebunden sind: «Das Land, es unterzieht euch einer strengen Schule.» Genau und zeitkritisch ist auch der Blick, mit dem Brandt diesen Alltag zwischen Unschuld und Kälte einfängt. Die poetischen Bilder und der Kommentar machen den Film zu einem Zeitdokument, das in seiner Beschleunigungsskepsis nichts an Aktualität verloren hat.

Der Jura scheint in einem besonderen Verhältnis zur Zeit zu stehen, das zeigt auch die grosse Retrospektive an den Solothurner Filmtagen. Die Zeit verläuft hier nicht unbedingt langsamer als anderswo – dafür gibt es schlicht zu viel zu sehen und zu tun. Definitiv aber auch nicht schneller, denn dafür ist das Gelände dann doch zu unwegsam, der Schnee im Winter zu tief und der Absinth zu stark.

Von der Tradition zur Subversion

Sie tickt jedenfalls anders als jene Zeit, die das Flachland beherrscht. Man erinnert sich an Cyril Schäublins Film «Unrueh» (2022), der im 19. Jahrhundert im jurassischen Uhren- und Anarchist:innenenstädtchen Saint-Imier spielt, wo es stets mehrere verschiedene Zeiten zu respektieren galt: die Fabrikzeit, die die Arbeit bestimmte, jene des Telegrafen, nach dem sich die Züge richteten, sowie die Zeit der Kirchenuhr, wenn man denn vor lauter Arbeit einmal dazu kam, nach oben zu blicken. Wie als Reaktion auf solche Absurditäten scheint man sich im Jura irgendwann unter der Hand darauf geeinigt zu haben, Zeit als das zu nehmen, was sie in Wirklichkeit auch ist: eine Illusion, die den Unzulänglichkeiten menschlicher Wahrnehmung und der Wirtschaftssysteme entsprungen ist.

Veranschaulicht wird diese These zur Perfektion in «Les hommes de la montre» (1964), einem weiteren Film von Henry Brandt, dessen sträfliche Vernachlässigung in der offiziellen Schweizer Filmgeschichte längst einer Korrektur bedürfte. Entstanden als industrielle Auftragsarbeit, schlägt dieses Porträt des lokalen Uhrengewerbes einen Bogen von der Tradition der «paysans-horlogers» (Bäuer:innen, die nebenbei Uhrwerke herstellen) zu einer subversiven Anklage gegen den industriellen Fortschritt, an deren prophetischem Ende Brandt bereits die Ersetzung des Menschen durch die Maschine ahnt.

Wie diese Zukunft aussieht? Folgt man dem spanischen Film «Eva» (2011) von Kike Maíllo, dann könnte sie etwa so sein wie das La Chaux-de-Fonds der Gegenwart – bloss dass in den Fabriken nicht mehr Uhren hergestellt werden, sondern Roboter, die dem Menschen kognitiv wie emotional ebenbürtig sind. Das Science-Fiction-Drama mit Daniel Brühl ist zwar nicht der neue «Blade Runner», doch besticht es mit zwei originellen Aspekten: einerseits mit der nicht weiter thematisierten Grundhaltung, dass man auch Lebensformen der künstlichen Intelligenz mit Empathie und Respekt begegnen sollte; andererseits zeigt der Film, dass der Jura ohne grossen Ausstattungsaufwand archaische, gegenwärtige wie auch zukünftige Landschaft sein kann.

Kontemplation oder Verbrechen?

Wenn die Zeit eigenen Regeln folgt und Zwischenräume offenlässt, sollten diese ausgefüllt werden – nicht zuletzt, um Erschütterungen zu vermeiden. Etwa indem man zeitaufwendiges Handwerk zu perfektionieren sucht, wie es an den Solothurner Filmtagen vor allem in Kurzfilmen zu bestaunen ist: traditionelle Formen von Geigenbau, Pferdezucht, Pfeifenherstellung und das Räuchern von Würsten. Oder auch die kontemplative Erkundung der eigenen Seele. Und wem solches nicht gegeben ist, dem steht immer noch die Möglichkeit zur Flucht offen: in die Stadt, ins Ausland oder in die Kriminalität. Zu Letzterem bieten die nebligen Wälder und die felsigen Schluchten mehr als genug Gelegenheit – auch wenn der offizielle Programmtext etwas viel verspricht, wenn es heisst: «So geschmeidig der Hügelzug, so leidenschaftlich die Verbrechen», die sich hier abspielten.

Filmstill aus «Les granges brûlées»: eine Frau steht im Schnee und schaut auf einen Helikopter in der Luft
Unter Verdacht: Simone Signoret im Schneekrimi «Les granges brûlées» (1973). Still: Sammlung Cinémathèque Suissedi

Mehr als auf Konfrontation sind die jurassischen Landschaften nämlich auf das Verstecken, auf den heimlichen Gesetzesbruch ausgelegt. So handelt es sich beim Verbrechen im (filmischen) Jura oft um ein Importphänomen: In Paris, Lausanne oder Genf ausgeheckt oder begangen, trägt es erst in der Flucht in den Jura seine sekundären Auswirkungen in die Landschaft und in die Gemüter hinein. Etwa im schönen Winterkrimi «Les granges brûlées» (1973) von Jean Chapot, in dem Alain Delon und Simone Signoret zwei entgegengesetzte Welten verkörpern: er der blendend aussehende, desillusionierte Polizist aus Paris, der in der Gegend von Pontarlier ein Fremdkörper bleibt, sie die matriarchale Bäuerin, die viel dafür tun muss, um den Verdacht von ihrer Familie abzuwenden, obschon die weibliche Leiche in unmittelbarer Nähe ihres abgelegenen Bauernhofs gefunden wurde und sich so manches Familienmitglied etwas gar verdächtig verhält.

Doch blutige Tatorte bleiben wie gesagt die Ausnahme. Das ortstypische Vergehen betrifft hier eher ideelle Konstrukte wie die Steuerpflicht, das jahrzehntelange Absinthverbot, das sechste Gebot oder die Landesgrenze. Als hügelige, bewaldete Grenzregion mit zahlreichen Verstecken war der Jura schon immer – und jedenfalls bis zum Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum – ein Paradies für Schmuggler:innen. Von solchen erzählt auch Alain Tanner in «No Man’s Land» (1985), einem Jurafilm par excellence. Dabei hält er sich allerdings nicht gross mit den interessanten Details des jurassischen Schmuggelhandwerks auf. Bei Tanner geht es mehr um gestrandete Seelen: solche, die sich am liebsten selber aus dieser Landschaft, dieser Existenz hinausschmuggeln möchten, und solche, die, selbst wenn sie es könnten, nicht wüssten, wohin. Also transportieren sie Geld, Perlen und Gold in die Schweiz, verlieben sich unglücklich in ihre Kompliz:innen und lassen sich von der Polizei anschiessen – einfach, weil sie nichts Sinnvolleres zu tun finden.

Filmstill aus «No Man’s Land»: zwei Männer sitzen am Boden in einem Wald
Was tun ausser kriminell werden? Alain Tanners «No Man’s Land» (1985). Still: Sammlung Cinémathèque Suisse

Echte Kühe, mythische Pferde

In seiner Kritik zu Tanners Film äusserte der grosse französische Filmkritiker Serge Daney damals die Befürchtung, dass sich die Schweizer Landschaft für das fiktionale Erzählen bald «erschöpft» habe: «Wann kommt der Punkt, von dem an sie kein Nährboden mehr für Fiktion sein wird, sondern bloss noch Terrain für Dokumentarist:innen?» Trost fand Daney im grosszügigen Platz, den Tanner den «echten Kühen» eingeräumt hat, die den Fiktionen für einmal nicht nur aus dem Off zuschauen dürfen.

Eine Art verführerisch-entrückte Gegenthese dazu bietet «L’allégement» (1983), das neu restaurierte Spielfilmdebüt von Marcel Schüpbach. Die wunderschön surreal wirkenden Landschaften des Val de Travers sind dabei weit mehr als blosse Kulisse für das Drama um weibliches Begehren, Realitätsverlust und Selbstbestimmung, das sich hier abspielt. Sie fungieren auch als innere Landschaft, werden zum Schauplatz eines mythischen Identitätskonflikts, der sich in der Psyche der Protagonistin abspielt. Einen solch sinnlichen und sanften Seelenwestern mitsamt Reiter und Pferd kann man sich in kaum einer anderen Schweizer Gebirgskette vorstellen.

«Imaginaires du Jura»

Das grosse Sonderprogramm der Solothurner Filmtage zeigt über dreissig Filme aus elf Jahrzehnten, die alle im Jurabogen gedreht wurden: vom kurzen Dokumentarfilm aus der Frühzeit des Kinos («Images du Val de Travers», 1910) über einen frühen Kurzfilm von Ursula Meier («Des heures sans sommeil», 1998) bis zur Premiere einer Splatterkomödie («Un ours dans le Jura», 2024). Zeitgleich startet im Kunstmuseum Solothurn die Ausstellung «Jurabilder», die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart führt.

www.solothurnerfilmtage.ch
www.kunstmuseum-so.ch

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