Dominikanische Republik: Im Schatten der Grenze

Nr. 36 –

Hunderttausende Haitianer:innen leben in der Dominikanischen Republik ohne gültige Papiere. Unter Präsident Luis Abinader werden sie in Massen deportiert. Betroffene erzählen von ständiger Angst und systematischer Ausgrenzung. Was sie erleben, ist Ausdruck einer Diskriminierung mit historischen Wurzeln.

Männer in einem Lastwagen der dominikanischen Migrationsbehörde am Grenzübergang von Dajabón
Wer von den Sicherheitskräften für eine:n Haitianer:in gehalten wird, wird festgenommen und nach Haiti deportiert: Männer in einem Lastwagen der dominikanischen Migrationsbehörde am Grenzübergang von Dajabón. 
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Ein ruppiger Wind fegt an diesem Abend über die Uferpromenade von Puerto Plata. Der Himmel ist dunkelgrau, die schwülheisse Luft kühlt langsam ab. Auf einer Bank im Parque La Puntilla sitzt Lizbeth Domínguez. «Wir können nicht lange hierbleiben», sagt sie und schaut sich um, «man weiss nie, wann sie kommen.» Mit «sie» meint Domínguez die Camionetas, die vergitterten Lastwagen der dominikanischen Migrationsbehörde Dirección General de Migración (DGM). Täglich durchkämmen sie die karibische Küstenstadt im Norden der Dominikanischen Republik. Sie halten vor Baustellen, Supermärkten, Haustüren. Wer von den Sicherheitskräften, oft allein wegen der Hautfarbe, für eine:n Haitianer:in gehalten wird, wird festgenommen und nach Haiti deportiert.

Die Dominikanische Republik deportiert seit Jahrzehnten Haitianer:innen (siehe WOZ Nr. 8/14). Doch unter Präsident Luis Abinader, der 2020 ins Amt kam, erreichten die Abschiebungen ein neues Ausmass. Nach seiner Wiederwahl 2024 kündigte er an, wöchentlich bis zu 10 000 Haitianer:innen deportieren zu wollen. Die dominikanische Regierung bezeichnet Haiti als «gescheiterten Nachbarstaat», dessen Last nicht länger tragbar sei. Insgesamt 300 000 Haitianer:innen wurden laut der DGM zwischen Oktober 2024 und Juli 2025 abgeschoben.

Ein Entscheid mit fatalen Folgen

Lizbeth Domínguez wurde 1993 als Tochter haitianischer Einwander:innen in der Dominikanischen Republik geboren. Ihre leibliche Mutter hat sie nie kennengelernt, sie wurde von einem dominikanischen Paar grossgezogen. Zwei Jahrzehnte lang stellte niemand ihre Zugehörigkeit infrage. Bis 2013 das dominikanische Verfassungsgericht entschied, dass allen Menschen haitianischer Herkunft, die zwischen 1929 und 2010 im Land geboren wurden, rückwirkend die Staatsbürgerschaft aberkannt wird – mit der Begründung, die Kinder haitianischer Einwander:innen hätten sich rechtlich stets nur im Transit befunden. Nach einem DNA-Test wurde Domínguez’ Geburtsurkunde annulliert. Von einem Tag auf den anderen galt Domínguez als staatenlos. «Ich bin weder von hier noch von dort», sagt sie und blickt aufs Meer hinaus. Rund 200 000 Haitianer:innen verloren nach diesem Entscheid ihren rechtlichen Status und somit den Anspruch auf zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – von Arbeitsrechten über medizinische Versorgung bis hin zu Bildung und Finanzdienstleistungen.

Portraitfoto von Lizbeth Domínguez
«Nicht auffallen, das ist das Wichtigste»: Lizbeth Domínguez galt von einem Tag auf den anderen als staatenlos. 

Mit der Hilfe einer Mitbewohnerin liess sich Domínguez einen haitianischen Pass ausstellen und kaufte damit für umgerechnet 360 Franken eine einjährige Aufenthaltsbewilligung. Jeden Monat musste sie an die Grenze, um die Dokumente abstempeln zu lassen, andernfalls drohte eine Busse von umgerechnet 32 Franken. Doch im September 2023 setzte der dominikanische Präsident Luis Abinader die Visavergabe an Haitianer:innen aus, offiziell wegen eines Streits über den Bau eines Bewässerungskanals am Fluss Massacre, der laut einem Vertrag von 1929 zwar gemeinsam genutzt, aber nicht verändert werden darf. Schätzungen zufolge leben mindestens eine halbe Million Haitianer:innen in der Dominikanischen Republik, die meisten von ihnen gezwungenermassen illegal: ohne jegliche Rechte und ständig der Gefahr einer Abschiebung ausgesetzt.

Wenn Domínguez das Haus verlässt, glättet sie ihren Afro und trägt Extensions. «Nicht auffallen, das ist das Wichtigste», sagt die 31-Jährige. Um den täglichen Polizeikontrollen unterwegs zu entgehen, schläft sie unter der Woche im Haus der Familie, bei der sie als Haushaltshilfe arbeitet. Doch manchmal reicht das nicht. Vor rund zwei Jahren hielt ein Polizist sie an, kontrollierte ihre Tasche, fragte nach Papieren. Als sie nichts vorweisen konnte, packte er sie wortlos am Arm und stiess sie auf die Ladefläche einer Camioneta. Sie sollte in ein Land gebracht werden, das sie nie zuvor betreten hatte. «Sollen sie doch alle sterben», sagte ein Soldat, als der Transportwagen eine Panne hatte und die Abgeführten drei Stunden in brütender Hitze ausharren mussten. Am Ende hatte Domínguez Glück. Ihr kolumbianischer Expartner und Vater ihrer gemeinsamen Tochter reiste an den Grenzübergang Dajabón–Ouanaminthe, wo Domínguez hingebracht wurde, und zahlte einem Beamten umgerechnet 500 Franken. Domínguez durfte zurück nach Hause.

Seitdem lebt sie noch vorsichtiger. Ihren haitianischen Pass hat sie getarnt, auf dem Einband steht «Pasaporte peruano». Zwischen den Seiten stecken 3000 Pesos, umgerechnet dreissig Franken, die sie im Fall einer Kontrolle hervornehmen kann, um die Polizei zu bestechen. Sicher fühlt sie sich jedoch nie. Und jeden Tag wird Domínguez daran erinnert, dass sie in der Dominikanischen Republik nicht willkommen ist. «Sie reden mit dir, als wärst du ein Tier», sagt sie. «Malditos haitianos del diablo» – Verfluchte haitianische Teufel –, rief ihr letzte Woche ein Mann im Supermarkt hinterher. Ihre Tochter bleibe glücklicherweise von den Anfeindungen verschont. Ihre Haut ist heller als die ihrer Mutter: «Je dunkler du bist, desto weniger wirst du hier wie ein Mensch behandelt.»

In ihrer Nachbarschaft helfen sich die Haitianer:innen gegenseitig, so gut sie können. Jean, der gegenüber wohnt, ist einer der wenigen, denen Domínguez vertraut. Auch er lebt ohne gültige Papiere und weiss, wie schnell alles vorbei sein kann. «Sie sind beim Colmado an der Tankstelle», sagt er auf Kreol, als Domínguez an diesem Abend nach Hause kommt. Sie versteht sofort. Die Camionetas sind wieder unterwegs. Um sich zu schützen, haben Jean, Domínguez und andere eine Whatsapp-Gruppe eingerichtet, in der sie gesichtete Fahrzeuge melden. «Aber manchmal bringt selbst das nichts», sagt Domínguez. «Manchmal kommen sie mitten in der Nacht, treten Türen ein und nehmen dich einfach mit.»

Rassistische Gewalt

Die Unterschiede zwischen den beiden Staaten auf Hispaniola könnten kaum grösser sein: Während das Urlaubsparadies, die «Dom Rep», ein stabiles Wirtschaftswachstum erlebt, versinkt Haiti in einer Dauerkrise: Naturkatastrophen, Cholera, politische Instabilität, und seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 eskalieren Bandenkriege. Die kriminellen Gruppen kontrollieren mehr als achtzig Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince und weiten ihren Einfluss auch im Landesinneren aus. Mitte 2024 trat eine Übergangsregierung an, um Stabilität zu schaffen und im kommenden November die ersten Wahlen seit 2016 abzuhalten. Da sich seither die Sicherheitslage weiter verschlechterte, rief das Kabinett Anfang August in drei von zehn Departementen einen dreimonatigen Ausnahmezustand aus.

Die Migrationsbewegung aus Haiti ins östliche Nachbarland ist kein neues Phänomen. Seit Jahrzehnten arbeiten Haitianer:innen in der Dominikanischen Republik, oft für Hungerlöhne und rechtlich kaum geschützt: als Erntehelfer, Haushaltshilfen oder im Baugewerbe. Das wirtschaftliche Wachstum der Dominikanischen Republik wäre ohne diese Arbeitskräfte nicht möglich. Dabei war Haiti einst der mächtigere Teil der Insel: 1804 erklärte sich das Land nach einer erfolgreichen Sklav:innenrevolte gegenüber Frankreich für unabhängig – es wurde der erste freie Staat der Karibik. Doch der Preis war hoch: Frankreich zwang die junge Republik zu Reparationszahlungen in Höhe von 150 Millionen Francs, was heute rund 17 Milliarden Euro entspricht. Um diese abzahlen zu können, erhob die Regierung hohe Steuern – auch im Osten der Insel, den Haiti 1822 annektierte. Für 22 Jahre stand ganz Hispaniola unter haitianischer Kontrolle. Ein repressives Militärregime unterdrückte damals die spanische Sprache, schloss katholische Einrichtungen. Diese Zeit dient in der Dominikanischen Republik bis heute als historisches Narrativ, um Rassismus und Diskriminierung gegenüber den Haitianer:innen zu rechtfertigen.

Hispaniola: Eine Insel, zwei Länder

Karte von Haiti und der Dominikanischen Republik

Nach der Unabhängigkeit der Dominikanischen Republik 1844 blieben beide Länder instabil, doch Haiti war durch die Reparationsschulden zusätzlich blockiert – ökonomisch und diplomatisch. Viele Staaten wollten die von den ehemals Versklavten erkämpfte Unabhängigkeit nicht anerkennen. Während sich die dominikanische Wirtschaft im frühen 20. Jahrhundert mit Zuckerexporten und US-Investitionen erholte, blieb Haiti in einem Kreislauf aus Schulden, politischer Instabilität und internationaler Vernachlässigung gefangen. Immer mehr Haitianer:innen suchten deshalb Arbeit in der Dominikanischen Republik, wo sie meist als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

Unter der Herrschaft von Diktator Rafael Trujillo erreichte die rassistische Gewalt einen grausamen Höhepunkt. Im Oktober 1937 liess er innerhalb einer Woche bis zu 30 000 Haitianer:innen ermorden. «Sie sind afrikanischer Abstammung und können für uns keinen ethnischen Anreiz darstellen», begründete er das brutale Vorgehen. Das Massaker ging mit dem verharmlosenden Namen «Petersilienmassaker» in die Geschichte ein: Wer das spanische Wort «perejil» (Petersilie) nicht fehlerfrei aussprechen konnte, wurde als Haitianer:in identifiziert und ermordet.

Ein letzter Blick zurück

Der grösste Grenzübergang im Norden der Insel zeigt die aktuell angespannte Beziehung zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik so deutlich wie vermutlich kein anderer Ort. Durch Dajabón, die Grenzstadt auf der dominikanischen Seite, rollen täglich vergitterte Transporter der Migrationsbehörde. Männer, Frauen, Kinder – starr blicken sie durch die Gitterstäbe, ihre Hände umklammern das Metall. Rückwärts manövrieren die Fahrer die Wagen ans Grenztor. Auf diese Weise stellen die Beamten sicher, dass die Haitianer:innen direkt nach dem Aussteigen die Grenze zu Haiti überqueren. Ein Mann mit einem Werkzeugeimer taumelt auf der Ladefläche des Wagens, fängt sich und steigt langsam aus, als der Wagen vor der Grenze hält. Ein Grenzbeamter schreit ihn an.

Gleich hier ragt auch die seit 2022 errichtete Grenzmauer empor: vier Meter hoch, ausgestattet mit Wachtürmen, Überwachungskameras und Bewegungssensoren. Präsident Abinader bezeichnet sie als Schutz vor irregulärer Migration und organisierter Kriminalität. Bislang sind 54 Kilometer fertiggestellt, insgesamt soll die Mauer rund die Hälfte der fast 400 Kilometer langen Grenze abdecken.

Zwischen Soldaten mit Gewehren und Tränengasbomben steht Junia Antonia, Menschenrechtsbeobachterin des Centro Montalvo in Dajabón. In der Hand hält sie ein Klemmbrett, auf dem sie die Zahl der Abgeschobenen notiert. «Eigentlich ist so ein Transporter für maximal dreissig Personen ausgelegt», sagt sie, «manchmal aber pferchen sie über hundert hinein.» Sie erzählt von Menschen, die ohnmächtig wurden, von Frauen, die von Soldaten vergewaltigt wurden, von prügelnden Polizisten und von einem Mann, der in einem Transporter starb. «Oft rauben sie den Deportierten auch das Letzte, was sie bei sich tragen», sagt Antonia, «ihr Telefon oder die letzen Pesos.» Antonia zählt nicht nur – sie hört zu, vermittelt, hilft. Etwa unbegleiteten Minderjährigen, die nach ihrer Abschiebung im Waisenhaus von Ouanaminthe, der Grenzstadt auf der haitianischen Seite, untergebracht werden. Sie kennt die Geschichten der Menschen, die zurückgeschickt wurden. Von jenen, die mitten in der Nacht aus ihren Häusern geholt oder direkt von der Arbeit verschleppt wurden.

Jays Lopez steht auf dem Balkon und blickt in die Nacht
An seinem Arbeitsplatz fühlt er sich relativ sicher: Jays Lopez ist Nachtwächter in einem Hotel gleich neben der Grenze. 

Jays Lopez steht für eines dieser Schicksale, wie sie Junia Antonia täglich begegnen. Der 26-jährige Haitianer lebt heute in Dajabón und arbeitet als Nachtwächter in einem kleinen Hotel gleich neben der Grenze. Es ist kurz nach Mitternacht: Die Stadt liegt still, nur von der Grenze weht dumpfes Stimmengewirr herüber. Drinnen im Hotel brummt der Ventilator leise vor sich hin. Lopez sitzt in der Lobby hinter dem Empfangstresen auf einem weissen Plastikstuhl, den Blick auf den Monitor mit den Überwachungskameras gerichtet. Neben ihm steht eine halb volle Flasche Cola, daneben ein zerlesenes Notizbuch. Als die letzten Check-ins erledigt sind, steigt Lopez die schmale Treppe zum Balkon hinauf. Im Schein der Neonlichter der Strasse öffnet er eine Dose Prestige – haitianisches Bier, dessen Geschmack ihn an zu Hause erinnert – und beginnt zu erzählen.

Von einem Viertel in Port-au-Prince, in dem er aufwuchs und in dem Banden das Sagen hatten. Von Schüssen, die er täglich hörte, und von Freunden, die ihn mit Versprechen von Reichtum und Macht anzuwerben versuchten. Doch Lopez wollte keiner von ihnen werden. Ende 2019 entschloss er sich zur Flucht. Sein Ziel war Azua, eine Kleinstadt in der Dominikanischen Republik, wo sein Cousin lebt. Unterwegs stoppte ihn die Polizei. Da Lopez damals noch kein Spanisch sprach, verstand er nicht, was sie von ihm wollten. Zwei Tage später wurde er abgeschoben.

Einige Monate später versuchte Lopez es erneut. Mit seinem letzten Geld bestach er einen Beamten und gelangte über die Grenze. Kurz vor Santiago stoppte ihn ein Soldat. «Wenn ich dich noch einmal sehe, schiesse ich dir in den Kopf», sagte ihm dieser. Lopez erstarrte. In den Augen des Mannes erkannte er, dass es keine leere Drohgebärde war. Wenige Stunden später sass er auf der Ladefläche eines Abschiebungstransporters zurück nach Haiti. Doch Aufgeben war für Lopez keine Option. Nur Tage später kehrte er zurück. Diesmal blieb er in Dajabón, direkt an der Grenze. In der Nähe der internationalen Organisationen fühlte er sich geschützter vor willkürlichen Kontrollen. Erst wenn er genug Geld verdient und Spanisch gelernt habe, so dachte er, würde er weiter ins Landesinnere gehen.

Was folgte, war ein Leben auf der Strasse. Lopez schlief auf Kartons, wusch sich im Kanal, wartete nackt, bis seine einzige Hose getrocknet war. Er arbeitete für einen Maniokverkäufer, später als Wachmann auf einer Baustelle – bis andere haitianische Arbeiter des Diebstahls beschuldigt wurden und er seine Stelle verlor. Mehrfach wurde Lopez ausgeraubt und auf offener Strasse zusammengeschlagen. Schliesslich nahm ihn ein dominikanischer Freund bei sich auf und vermittelte ihm die Arbeit im Hotel. Zwölf Stunden pro Nacht, sieben Tage die Woche für umgerechnet 210 Franken pro Monat. Menschenunwürdige Löhne für haitianische Arbeitskräfte wie dieser sind die Grundlage dafür, dass die Tourismusindustrie in der Dominikanischen Republik floriert.

Gegen 3 Uhr sieht Lopez, wie ein Streifenwagen vor dem Hotel hält. Er läuft hinunter in die Lobby, kurz darauf treten drei Polizisten ein. Sie kaufen sich Softdrinks, lassen den Blick durch den Raum schweifen. Sie scherzen und sind freundlich zu Lopez. Lopez bleibt ruhig, denn er weiss: In diesem Moment ist er sicher. Sein Arbeitgeber schätzt ihn und verschafft ihm eine Art inoffiziellen Schutzstatus. Als Lopez vor einem Jahr erneut hätte abgeschoben werden sollen, holte ihn der Hotelbesitzer persönlich von der Wache ab.

Doch die Angst hat sich eingebrannt. Lopez erinnert sich, wie auf der Migrationsbehörde einem Mitgefangenen eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt wurde, wie Schläge fielen. «Ich dachte, gleich komme ich dran», sagt er. Kurz vor 7 Uhr endet Lopez’ Nachtschicht. Am Horizont wird es langsam hell, ein fahles Licht liegt über der Strasse vor dem Hotel. Die Luft ist über Nacht nur minimal kühler geworden. Lopez überquert die Strasse und kauft an einem Verkaufsstand eine frisch frittierte Empanada. Er setzt sich auf den Bordstein und beisst hinein.

Kein Recht auf Bildung

Kurz bevor Lopez nach Hause schlafen geht, füllt sich der Grenzübergang mit Leben. Frauen mit Eimern und Säcken auf dem Kopf, Männer mit Schubkarren drängen sich durch das Tor, das Punkt 8 Uhr geöffnet wird – von Haiti in die Dominikanische Republik. Der binationale Markt beginnt: für viele die einzige Gelegenheit, legal dominikanischen Boden zu betreten. Für ein paar Stunden dürfen sie einreisen, um ihre Waren zu verkaufen. An Markttagen überqueren bis zu 30 000 Händler:innen die Brücke zwischen der haitianischen Grenzstadt Ouanaminthe und Dajabón. Der Zugang ist streng geregelt: Frauen mit sichtbarer Ware müssen auf der linken Seite der Brücke passieren. Alle anderen müssen sich rechts einreihen, wo schwer bewaffnete Soldaten sie kontrollieren. Die Schlange reicht oft bis zu hundert Meter weit zurück. Wer keine Ware trägt, gilt rasch als potenzielle:r Migrant:in und darf nicht über die Grenze.

Frauen mit Waren für den Markt überqueren die Grenze bei Dajabó
Binationaler Markttag in Dajabón: Frauen, die Waren mit sich führen, müssen die Grenze getrennt von den Männern überqueren.
Haitianer:innen welche den Markt besuchen wollen, stehen an der Grenze an
Für viele Haitianer:innen die einzige Gelegenheit, legal dominikanischen Boden zu betreten: Markttag.

Zwischen den Händlerinnen, die sich morgens über die Brücke drängen, laufen auch Schulkinder, allerdings in die entgegengesetzte Richtung – darunter die sieben Kinder von Lafleur und Jean Smith. Das Ehepaar lebt seit fast drei Jahrzehnten in der Dominikanischen Republik. Beide kamen in den neunziger Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben und lernten sich in Dajabón kennen. Damals, sagen sie, sei vieles einfacher gewesen. Man konnte sich freier bewegen und wurde grundsätzlich in Ruhe gelassen. Heute dagegen verlassen sie ihr Zuhause nur noch für die Arbeit oder zum Einkaufen. Auch ihre Aufenthaltspapiere sind abgelaufen. Jede Kontrolle könnte ihre Abschiebung bedeuten.

Obwohl ihre Kinder in der Dominikanischen Republik geboren wurden, dürfen sie hier nicht zur Schule gehen. Jeden Morgen überqueren sie daher zu Fuss die Grenze, um auf haitianischer Seite am Unterricht teilzunehmen, und kehren am Abend zurück. Der Weg ist gefährlich: An den Kontrollposten drohen willkürliche Schikanen, die Grenzbeamten setzen Schlagstöcke und Elektroschocker ein. Jeden Tag betet Lafleur Smith, dass ihre Kinder heil nach Hause zurückkehren. Die neunköpfige Familie wohnt in einer kleinen Zweizimmerwohnung, die ihnen ein dominikanischer Bekannter überlassen hat. Die Kinder schlafen auf dünnen Matratzen, die tagsüber an die Wand gelehnt werden. Jean Smith hält sich mit Gelegenheitsjobs auf dem Bau über Wasser. Lafleur Smith putzt regelmässig Häuser von drei Familien. Trotzdem reicht das Einkommen kaum für Miete und Essen.

Am Wochenende würden sie gerne mit den Kindern in den Park gehen, draussen sitzen, spazieren gehen. Doch das sei zu gefährlich. Das Paar hat kein Geld, um sich bei einer allfälligen Verhaftung «freizukaufen», wie es hier heisst. Lafleur Smith träumt manchmal davon, nach Haiti zurückzukehren. Ein kleines Haus, ein Garten, Ruhe. Ein neues Leben. Doch die Realität sieht anders aus. Gleich hinter ihrem Haus ragt die vier Meter hohe Grenzmauer aus Beton und Stacheldraht in die Luft. Theoretisch könnten Lafleur Smith und ihre Familie jederzeit zurück, doch die Mauer erinnert sie daran, warum sie einst gegangen sind. Und daran, wie viel schlimmer alles geworden ist.

 Lafleur und Jean Smith mit ihren sieben Kindern
Jede Kontrolle könnte ihre Abschiebung bedeuten. Lafleur und Jean Smith mit ihren sieben Kindern.