Gewalt in Haiti: Leben, wo die Banden töten
Seit dem Mord an Präsident Moïse vor zwei Jahren haben die staatlichen Institutionen die Kontrolle über die immer stärker werdenden Gangs völlig verloren.
Die Trottoirs sind von den Auslagen der Strassenhändlerinnen blockiert. Frauen sitzen zwischen Zwiebeln, Maniok, Papayas und Mangos, Blech- und Plastikgeschirr oder gebrauchten Klamotten. Sie schützen sich mit Strohhüten, gross wie Wagenräder, vor der sengenden Sonne. Die Fussgänger:innen werden von ihren Waren auf die schmalen, von Schlaglöchern übersäten Fahrspuren verdrängt und machen diese noch enger. Dort stauen sich Geländewagen zwischen Motorrädern und sogenannten Tap-Taps: bunt angestrichenen Pick-ups, deren Ladeflächen mit Bänken und einem Sonnendach ausgestattet sind – der öffentliche Personennahverkehr. An Kreuzungen gilt das Recht des Stärkeren.
Es ist über 35 Grad im Schatten bei einer Luftfeuchtigkeit von mehr als neunzig Prozent. Port-au-Prince wirkt auf den ersten Blick so wie immer: laut, drückend, wuselig, chaotisch. Und das soll die Stadt sein, von der Uno-Generalsekretär António Guterres seit Monaten sagt, achtzig Prozent ihrer Fläche seien unter der Terrorherrschaft krimineller Banden, weshalb eine internationale militärische Intervention vonnöten sei?
Spätestens in der ersten Nacht bekommt man eine Ahnung davon, dass doch nicht alles so normal ist, wie es zunächst erscheint. Selbst in Stadtvierteln, die als verhältnismässig sicher gelten, wird man irgendwann von einem lange anhaltenden Schusswechsel geweckt. Wenn es dunkel ist und ansonsten still, ohne den Lärm des Tages, dann hören sich die Schüsse so an, als würden sie gleich an der nächsten Ecke abgefeuert. Man überlegt, ob man unter dem Bett vielleicht vor eventuellen Querschlägern sicherer ist.
Grüne, gelbe und rote Zone
Man könnte eine Karte des Grossraums von Port-au-Prince, in dem knapp drei Millionen Menschen leben, mit drei unterschiedlichen Farben unterteilen. Die Gegenden, in denen staatliche Sicherheitskräfte noch immer die Oberhand haben, wären dann grün. Das sind Stadtviertel wie das hoch über dem Zentrum gelegene Pétionville, wo hauptsächlich bessergestellte Haitianer:innen leben, oder auch die Mittelklasseviertel von Delmas am nördlichen Rand des Zentrums. Dort herrscht nicht nur am Tag Betrieb auf den Strassen. Nach Einbruch der Dunkelheit gehen junge Leute in Diskotheken, um die Garküchen auf den Bürgersteigen drängen sich die Kund:innen.
Gelbe Zonen wären auf einer solchen Karte diejenigen, die von nur einer Gang beherrscht werden. Auch dort soll es verhältnismässig sicher sein. Manche Bewohner:innen solcher Viertel sagen, es sei sogar sicherer als in den Gegenden unter der Kontrolle der staatlichen Sicherheitskräfte. Es gebe so gut wie keine Überfälle, weil Kleinkriminelle Respekt vor den schwer bewaffneten Gangmitgliedern hätten. Nur nachts traut sich kaum jemand auf die Strasse, aus Angst vor Entführungen. Fast tausend Menschen wurden in diesem Jahr in Haiti bereits entführt, die allermeisten in Port-au-Prince. Opfer sind beileibe nicht nur Menschen mit Geld. Auch Strassenhändlerinnen und Schulkinder wurden schon gekidnappt.
Die roten Zonen wären die Gegenden, in denen sich zwei oder mehrere Banden bekämpfen. Dort zu leben, ist die Hölle. An jeder Ecke kann jederzeit eine Schiesserei ausbrechen, Hütten werden geplündert und niedergebrannt, Männer, die man für Unterstützer einer gegnerischen Gang hält, werden massakriert, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Weit über 100 000 Menschen sind schon aus solchen Gegenden geflohen. Die meisten von ihnen leben heute auf der Strasse. Genauso rot wie diese Zonen müssten die Ausfallstrassen aus der Stadt markiert werden. Dort haben die Banden Strassensperren errichtet. Privatfahrzeuge werden nicht durchgelassen; Busse, Tap-Taps und Lastwagen, die Waren transportieren, müssen hohe Schutzgelder bezahlen. Immer wieder werden Lastwagen samt Ladung und Fahrern entführt. Lösegelder sind die hauptsächliche Einnahmequelle der Banden.
Politik und Gewalt
Die Bandenkriminalität betrifft fast ausschliesslich die Hauptstadt und Teile des nördlich davon gelegenen Artibonite-Tals, der wichtigsten Anbauregion für Reis und Gemüse. Der Rest des Landes ist davon verschont. In Cap Haïtien an der Nordküste, der mit gut 200 000 Einwohner:innen zweitgrössten Stadt des Landes, kann man auch nach Einbruch der Dunkelheit gefahrlos durch die koloniale Altstadt schlendern und die Restaurants an der Küstenstrasse besuchen. Die Strände in der Umgebung sind an den Wochenenden von Einheimischen bevölkert. Port-au-Prince scheint viel weiter weg als nur 200 Kilometer.
In der Hauptstadt ist nicht nur die Gewalt konzentriert. Dort – und fast ausschliesslich dort – wird auch die Politik des Landes bestimmt. Und Politik und Gewalt haben in Haiti sehr viel miteinander zu tun. «Jeder auch nur einigermassen einflussreiche Politiker pflegt enge Kontakte zu mindestens einer Gang», sagt ein Menschenrechtsanwalt, der sich seit Jahren mit der Bandenkriminalität beschäftigt. Er schläft seit Monaten nicht mehr bei sich zu Hause, weil er weiss, dass seine Arbeit diesen Politiker:innen und ihren verbrecherischen Handlangern ein Dorn im Auge ist. Sein Name soll deshalb nicht genannt werden. «Die Politiker nutzen die Gangs zur Kontrolle über ihren Wahlkreis», weiss er. «Bei Wahlen schüchtern sie die politischen Gegner ein und sorgen dafür, dass nur ihre eigenen Anhänger zur Urne gehen.» Ohne die Zusammenarbeit mit kriminellen Banden seien die Chancen gering, ein politisches Amt zu ergattern. Die Politiker:innen sorgten für den Waffennachschub, was den Banden dann genügend Macht gebe, um mit Schutzgelderpressungen und Entführungen zu Geld zu kommen.
Einer, der dieses schmutzige Spiel mit am besten beherrschte, war Präsident Jovenel Moïse. Er hat viele seiner politischen Gegner mit der Hilfe mächtiger Gangs aus dem Weg geräumt oder zumindest in Schach gehalten. Der Mord an ihm am 7. Juli vor zwei Jahren war mutmasslich eine Abrechnung unter korrupten Politikern und Geschäftsleuten; als Auftraggeber kommen eine ganze Reihe von ihnen infrage. Vieles deutet darauf hin, dass auch der heutige Übergangspremierminister Ariel Henry schon vorab über das Attentat gegen den Präsidenten informiert war.
Unerwünschte Einmischung
Seit dem Mord an Moïse ist das vorher einigermassen bestehende Gleichgewicht des Schreckens durcheinandergeraten. «Es gibt heute Gangs, die keinen Besitzer mehr haben», sagt der Menschenrechtsanwalt. «Sie agieren auf eigene Faust und sind von niemandem mehr zu kontrollieren.» Den einen gehe es nur um territoriale Kontrolle und die damit verbundenen Möglichkeiten, ungestört Schutz- und Lösegelder zu erpressen. Andere hätten aber auch politische Ambitionen. Der prominenteste unter den Bandenführern ist Jimmy Chérizier, genannt Barbecue, der zuvor eng mit Moïse zusammengearbeitet hatte. Chérizier ist ein ehemaliger Elitepolizist, der auf internationalen Druck hin entlassen werden musste, weil seine Einheit für mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich war. Er führt heute eine grosse Koalition aus über einem Dutzend ehemals selbstständiger Banden an, die er in der Landessprache Kreyòl «Fòs Revolisyonè G9 an Fanmi e Alye» nennt: Revolutionäre Kräfte G9 mit Familie und Alliierten. Sie beherrscht grosse Teile von Port-au-Prince. Er lässt seine Truppe öffentlich paradieren, veranstaltet Medienkonferenzen, geriert sich als Freiheitskämpfer und hat schon angekündigt: Sollte es zu einer internationalen militärischen Intervention kommen, werde er die Invasoren bis zum letzten Mann bekämpfen.
Ausser den Menschen in den umkämpften Gegenden von Port-au-Prince, für die alles besser ist als der derzeitige Horror, will so gut wie keine:r, dass sich ausländische Militärs oder Polizist:innen einmischen. Die jüngere Geschichte Haitis ist durchzogen von ausländischen Interventionen, und jede von ihnen hinterliess das Land in einem schlimmeren Zustand als zuvor. Die längste begann 1915. Damals fiel die US-Armee ins Land ein und beherrschte es neunzehn Jahre lang. Militanter Widerstand wurde mit Massakern an der Zivilbevölkerung und Flächenbombardements erstickt. Als die Marines wieder abzogen, war die gesamte Politik und Verwaltung eines vorher eher föderal strukturierten Landes in der Hauptstadt konzentriert, eine von den USA neu geschaffene Nationalgarde diente der herrschenden Elite als Repressionsinstrument. Als vorläufig letzte Besatzung empfinden die meisten Haitianer:innen die Blauhelme der Uno, die 2004 ins Land gekommen waren. 2010, nach dem verheerenden Erdbeben, brachten zwei Uno-Soldaten aus Nepal die Cholera ins Land. Vorher war Haiti frei von dieser Krankheit gewesen. Über verschmutztes Wasser breiteten sich die Erreger rasend schnell aus, mehr als 10 000 Menschen starben. Dazu gab es jede Menge von Skandalen wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Uno-Soldaten. Als die Blauhelme 2017 wieder abzogen, war das Land noch instabiler als bei ihrer Ankunft.
Einzig Interimspremier Henry, der die Vereinten Nationen zur erneuten Intervention aufgefordert hatte, würde von Besatzungstruppen profitieren. Seine sehr labile Regierung würde von einer internationalen Streitmacht abgesichert. Kenia hat sich bereit erklärt, eine solche Interventionstruppe mit tausend paramilitärischen Polizisten anzuführen. Andere Länder aber zieren sich, und auch ein Mandat des Uno-Sicherheitsrats steht noch aus.
Bürgerwehren gegen Gangs
Vorerst scheint es keinen Ausweg aus der Krise zu geben. Immerhin gebe es inzwischen militanten Widerstand gegen den Bandenterror, sagt der renommierte Soziologe Jean Casimir. Keiner hat die Entwicklung der haitianischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit 1804 so durchleuchtet wie er. Aus dem Befreiungskrieg gegen die französischen Kolonialherren, sagt er, sei eine neue korrupte Elite hervorgegangen, die seither den Staat selbstherrlich beherrsche und ausnehme. Ihre Zusammensetzung habe sich zwar immer wieder verändert, gleich geblieben aber sei der Volkswiderstand dagegen. Und den sieht Casimir auch jetzt.
In den vergangenen Monaten ist eine spontane Bewegung entstanden, die sich «bwa kale» nennt, ein derber kreolischer Ausdruck, ähnlich dem deutschen «fick dich». Die Bürgerwehren greifen mutmassliche Gangmitglieder auf, schlagen sie nieder und verbrennen sie bei lebendigem Leib. «Das ist hässlich», sagt Casimir. «Aber es ist derzeit die einzige Möglichkeit des Widerstands.» Tatsächlich hatten Hunderte von Lynchmorden zunächst ein Abflauen der Bandenkriege zur Folge. Doch nun reagieren die Gangs und organisieren Rachefeldzüge. «Es mag sein, dass wir alle in diesem Krieg untergehen», sagt Casimir. «Aber der Volkswiderstand wird nie unterdrückt werden können.»