Kae Tempest: Sich selbst mitmeinen
Turbulente Körper in turbulenten Zeiten: Kae Tempests fünftes Album «Self Titled» erzählt eindringlich von der eigenen Transitionserfahrung.

Auf dem Fernseher eines Friseursalons läuft eine flimmrige alte Videoaufnahme, in der eine junge Version von Kae Tempest auf einer Bühne zu sehen ist, mit langen lockigen Haaren. «Würdest du dein jüngeres Ich treffen, was würdest du sagen? Bei mir wäre es: Danke», rappt die junge Version, während sich der aktuelle Kae Tempest einen Undercut in die kurzen roten Haare rasieren lässt. «Know Yourself» heisst der Song zu diesem Video, der diese Zeilen von einem älteren Song aufnimmt. Später im Text fallen die Stimmen zusammen, man hört beide die gleiche Zeile rappen, das jüngere und das ältere Ich, die hohe Stimme und die tiefe: «Als ich jung war, hab ich bei meinem älteren Selbst Hilfe gesucht.» Ein beinahe froher Track, auf dem Tempest vom komplizierten Weg bis zu seiner Transition erzählt. Und auch deshalb so gut, weil hier Erlösung zwar durchaus in Aussicht gestellt wird, als entsprechende Fantasie aber dennoch nicht taugt: Es wird immer ein potenzielles älteres Ich geben, das es besser weiss als man selbst. Und noch immer nicht am Ziel ist.
Es ist kein Zufall, spielt «Know Yourself» in einem Friseursalon. Derselbe rasierte Hinterkopf ziert auch das Cover von «Self Titled», Kae Tempests diesen Sommer erschienenem, fünftem Album. Ein wichtiger Schritt, diese Kurzhaarfrisur: Er habe sich jahrelang nicht getraut, die Haare abzuschneiden, sagte Tempest kürzlich zum «Guardian», die roten Locken, die zu einem Markenzeichen geworden waren. Und zu einem Symbol für die Karriere, die sich Tempest aufgebaut hatte, durchgeboxt und durchgebissen, der Rap als Halt in der Orientierungslosigkeit, der Erfolg Balsam und Antrieb zum Weitermachen. Gleichzeitig bedeutete dieser Erfolg, von einem immer grösser werdenden Publikum als Frau gelesen zu werden, als Rapperin berühmt zu sein. Die langen Haare, auch ein klassisches Symbol für Weiblichkeit, das sich für Tempest mit immer mehr Ängsten und Unsicherheiten auflud: Würde das Abschneiden das Ende dieser Karriere bedeuten?
Ein diffuses Du
Anfang 2020 schnitt sich Tempest die Haare raspelkurz, im ersten Coronasommer kam das öffentliche Outing als nonbinär, 2022 das vierte Album, «The Line Is a Curve», geprägt auch von der Transitionserfahrung. Viele der Texte darauf sind an ein mehr oder weniger diffuses Du gerichtet, das auf der Suche nach einem Platz in der Welt ist, hie und da ein Hinweis, wo sich ein Weg vielleicht durchführen könnte.
Menschen auf der Suche nach einem Daheim, das war schon in früheren Werken ein wichtiges Thema bei Tempest, nicht nur im Rap, sondern etwa auch im Roman «Worauf du dich verlassen kannst» oder im Langgedicht «Let Them Eat Chaos / Sollen sie doch Chaos fressen» (beide 2016). Die meisten der Protagonist:innen dieser Texte kamen aus Südlondon, wo Tempest aufgewachsen ist und bis heute lebt; versehrte Figuren mit wenig Geld und in prekären Lebensumständen, die sich irgendwie durchschlagen. Eindringlich und nah an diesen Leuten zu erzählen, an ihrem oft schwierigen Alltag, ihren Sorgen und Sehnsüchten: Damit hat sich Tempest einen Namen gemacht. Mit «The Line Is a Curve» verschob er ein erstes Mal den Fokus, rückte sich selbst, den eigenen Weg ins Zentrum, wenn auch noch recht schüchtern. Mit dem diffusen Du war Tempest zumindest mitgemeint.
2025 outete sich Tempest als trans Mann, «Self Titled» ist ein Ausdruck dieser Erfahrung. Die meisten der Texte darauf sind nun in der ersten Person geschrieben, aus dem Du von «The Line Is a Curve» wird ein Ich. Zu diesem eindeutiger autobiografischen Zugang ermutigt wurde er unter anderem vom Produzenten James T. Smith, der zuvor etwa mit Adele, Stormzy oder dem Londoner Rapper Dave zusammengearbeitet hatte. «Wer sonst», soll er Tempest gefragt haben, «welcher andere UK-Rapper oder -Lyriker könnte diese Geschichte so erzählen?» Stormzys Debütalbum «Gang Signs & Prayer» (2017) war schliesslich gerade deswegen so gut geworden, weil es komplexer war, als man es von einem Südlondoner Grime-Rapper hätte erwarten können: Neben hartem Strassenrap und Punchlines zeigte er sich in anderen Songs verletzlich, erzählte von seiner Mutter und seinem Glauben. «Gang Signs & Prayer» gewann an den Brit Awards 2018 als erstes Rapalbum überhaupt den Titel des Albums des Jahres. So, sagte Tempest letzten Monat in einem Interview, habe Produzent Smith ihn überzeugt. Und so seien sie an die Arbeit gegangen.
Ringen mit der Welt
Das Resultat ist ein selbstbewussteres Sprechen von sich selbst, nicht grossspurig, aber erleichtert. Es ist auch das erste Album nach dem Stimmbruch, auf diesem ist Tempests durch Testosteron ausgelöste, tiefere Stimme zu hören. «37 Jahre alt, eine zweite Pubertät», heisst es auf dem Introtrack «I Stand on the Line». «Haare auf meiner Brust, Pickel auf dem Kinn» – und auch die Emotionen sind nicht mehr, wie sie einmal waren: ein turbulenter Körper in einer turbulenten Zeit.
Die Entscheidung für eine Testosterontherapie habe wie jene, die Haare zu schneiden, lange gedauert, sagt Tempest in einem Video auf Social Media. Auch aus Angst: Wenn die Stimme das wichtigste Instrument ist, das eigene Werk auf ihr aufbaut – was passiert dann, wenn sie sich so merklich verändert? Hört man sich das Album an, wird schnell klar: Diese Stimme klingt anders, aber auch nicht nur. Denn es ist ja nicht bloss die Stimmlage, die Tempests Werk ausmacht; das so ausgeprägte Bewusstsein für Rhythmus und Klang, die dichten, anspruchsvoll geschriebenen Lyrics, das schnelle, nie atemlose Erzählen, das ist alles da auf diesem Album. Im Übrigen auch der gelegentliche Hang zum Pathos, der dem sonst so sorgfältigen Storytelling dazwischenfunkt, etwa in «Sunshine on Catford», einer etwas gar plumpen (oder einfach sehr verliebten) Ode an eine:n Geliebte:n. Man mag es verzeihen bei all der Schwere, die dieses Album trotz der hörbaren Erleichterung prägt. Auch wenn er heute auf Pressebildern öfter als früher lachend zu sehen ist, in Videos gelöster wirkt: Tempest bleibt ein ernsthafter Rapper, seine Musik ein Ringen mit der Welt und all ihren Traurigkeiten.
Schliesslich werden auf «Self Titled» auch der Druck von aussen, die heftige Transfeindlichkeit, die Gewalt und die Ablehnung thematisiert: «Wen werde ich heute mit meiner Existenz verärgern?», heisst es in «I Stand on the Line», «warum stehen trans Körper dauernd auf der politischen Agenda?» Gerade wegen Tempests Ernsthaftigkeit ist es bemerkenswert, dass auf «Self Titled» trotzdem die Freude überwiegt, dass diese Existenz überhaupt möglich ist. Er habe erst vor kurzem Zugang zur queeren Community gefunden, und was für ein Glück das sei.
Es gibt nicht bloss die früheren und späteren Ichs, sondern auch ein grosses Wir.
